Süddeutsche Zeitung

Formel 1 in Budapest:Ferrari hisst den weißen Reifen

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Trotz eines Drehers um 360 Grad rast Max Verstappen beim Großen Preis von Ungarn vom zehnten Platz zum Rennsieg. Die hoch favorisierte Scuderia erlebt das nächste strategische Desaster - und muss Mercedes die übrigen Podiumsplätze überlassen.

Von Philipp Schneider, Budapest

Irgendwann gegen Ende dieses Rennens, als er so mit dem Helm im Wind durch die überraschend kühle Luft am Hungaroring rauschte, wird Max Verstappen die Zeit gefunden haben, um über diesen wahrhaftig irrwitzigen Rennsieg zu sinnieren, dem er nun entgegenbretterte. Seine Gegner von Ferrari hatten ihm in dieser nun 13 Rennen währenden Saison ja bereits das eine oder andere Geschenk gemacht.

Mal hatten sie ihm den ersten Platz mit einer falschen Boxenstrategie auf den Gabentisch gelegt, mal hatten sich Charles Leclerc und Carlos Sainz lieber gegenseitig bekämpft als ihn, dann wieder waren die Motoren der Scuderia explodiert oder hatten gar gebrannt. Und wenn das Team mal keinen Fehler machte und die Technik nicht streikte, dann hatte Leclerc wie zuletzt in Frankreich seine Front ohne Not in die Bande gerammt.

Aber diesen Großen Preis von Ungarn am Sonntag, das wird sich Verstappen gedacht haben, den hätte er niemals gewinnen dürfen, es war eigentlich unmöglich. Doch tatsächlich: Als Zehnter ging er ins Rennen - und nach 70 Runden bretterte er als Erster über die Ziellinie, gefolgt von den Silberpfeilen von Lewis Hamilton und George Russell - nachdem der siebenmalige Weltmeister seinen Teamkollegen noch fünf Runden vor Schluss überholt hatte.

Und Charles Leclerc? Verstappens Rivale im Titelkampf? Er wurde nur Sechster, obwohl er als Dritter gestartet war. Was aussah wie ein Wunder, wurde sehr irdisch, sobald man es technisch erklärte. Denn Leclerc hatte bis zu seinem zweiten Stopp auf Siegkurs gelegen. Dann allerdings hatte ihm sein Team trotz der kühlen Brise in Ungarn die harte, weiß umrandete Reifenmischung umgeschnallt, er brachte diese zu keiner Zeit auf Wohlfühltemperatur - und war danach gegenüber den Attacken der Konkurrenten wehrlos gegenüber gestanden wie ein Containerschiff dem Überholversuch eines Schnellboots. "Ich hatte nur gehofft, nah ans Podium zu kommen", sagte der selbst erstaunte Verstappen: "Ein verrücktes Rennen."

Es ist so: Am Sonntag hat die Scuderia Ferrari im Titelkampf mit Red Bull den weißen Reifen gehisst. Verstappens Vorsprung auf Leclerc beträgt nun 80 Punkte. Und es sind nur noch neun Rennen zu fahren. Bei aller Liebe zu Ferrari: Das dürfte es gewesen sein.

Leclerc trug zu dieser Erkenntnis die passende Leere in den Augen, als er später die Strategie seines Teams kritisierte: Er wäre gerne länger auf den mittelharten Gummis gefahren, sagte er, dann auf die weichen gewechselt: "Auf den harten bin ich nur kreuz und quer herumgerutscht." Und wie sah das sein Teamchef Mattia Binotto? "Manchmal macht man vielleicht Fehler, die anderen machen auch Fehler", flötete er. "Egal welchen Reifen wir hatten, ob Soft, Medium oder Hard, die Performance unseres Autos war nicht wie erwartet." Durch Binottos Harry-Potter-Brille betrachtet schimmerte die Zauberwelt mal wieder rosarot.

Die Qualifikation am Samstag hatte mit zwei Donnerschlägen geschlossen. George Russell, der 24-jährige Ausnahmefahrer von Mercedes, hatte sogleich seine erste Chance in einem nach zwölf Rennen endlich mal bestzeittauglichen Silberpfeil genutzt, um sich die erste Pole Position seiner Karriere zu schnappen.

Dafür hatte er zwar Reifen benötigt, die im entscheidenden Moment im optimalen Erhitzungszustand rollten, aber das schmälerte die Freude von Teamchef Toto Wolff nur marginal. Der WM-Führende Verstappen hingegen hatte es bei der Zeitenjagd mit technischen Problemen zu tun, was ihn zurückwarf auf Startplatz zehn; zudem musste er sich vor dem Rennen einen neuen Motor einsetzen lassen.

Die Konstellation an der Spitze ähnelte eher einer Schlachtordnung im Abenteuerland als einer handelsüblichen Startaufstellung. In der beliebtesten Parkbucht parkte Russell, von dem niemand sagen konnte, ob sein Silberpfeil nicht nur auf eine Runde, sondern auch über die gesamte Renndistanz schnell sein würde. Dahinter lauerten die Ferrari-Piloten in umgekehrter Reihenfolge ihrer WM-Punkte: Erst Sainz, dann Leclerc.

Für Mercedes war die Strategie klar. Da die Geschwindigkeit der Silberpfeile nicht ausreichen würde, um sich mit den Ferraris ernsthaft zu duellieren, so dachte man zumindest, musste die Devise sein, sie so lang wie möglich hinter sich zu halten, auf diesem engen und verwinkelten Kurs, auf dem das Überholen so schwierig ist.

"Ich muss einfach so schnell fahren, wie es geht", fasst es Russell pointiert zusammen, dann gingen die Ampeln aus auf dem Hungaroring. Und Russell legte los, als habe er schon ein Dutzend Mal ganz vorne geparkt. Wobei ihm half, dass er eine weichere Mischung aufgezogen hatte als seine Verfolger. In der ersten Kurve griff ihn Sainz auf der Außenseite an, Russel machte sich breit und wehrte den Angriff ab. Den größten Erfolg feierte zum Auftakt Hamilton, der sich sogleich die zwei Alpine von Esteban Ocon und Fernando Alonso schnappte und vorfuhr Rang fünf.

Russell versuchte, sich auf seinen weicheren Reifen abzusetzen vom rasenden Ferrari-Duo in seinem Nacken. Vergeblich, aber zumindest hielt er es hinter sich. Und er diente nun auch unfreiwillig dem von hinten aufschließenden Verstappen als persönlicher Bremsklotz der Scuderia. Nach sieben Runden war der Niederländer schon vorgefahren von Position zehn auf sechs. Die neue Reihenfolge sah Russel vor den zwei Ferraris, gefolgt von Lando Norris im McLaren sowie Hamilton und Verstappen. Nach zwölf Runden zogen Hamilton und Verstappen im Geleitflug an Norris vorbei. Und ganz plötzlich rollten die zwei roten Autos im Sandwich der silbernen.

Weil nun aber die weichen Reifen von Russell runtergefahren waren, bog er nach 16 Umdrehungen als Erster an die Box für einen frischen Satz - ihm folgten kurz darauf auch Sainz, Verstappen und Hamilton. Und so übernahm Leclerc erstmals in diesem Rennen die Führung - nur vorübergehend. Denn als er schließlich nach 21 Runden nach seiner Rast zurückkehrte auf die Strecke, da sah er Russell wieder an sich vorbeirauschen. Dafür allerdings lag Leclerc nun vor Sainz (auch, weil die Mechaniker am Wagen des Spaniers auf mysteriöse Weise länger geschraubt hatten als an seinem) - und hatte zusätzlich frischere Reifen angeschnallt. Verstappen wiederum hatte es nach den Stopps an Hamilton vorbeigeschafft.

Verstappen erkennt Leclercs Schwäche sofort

Dann begann ein wilder Tanz zwischen Leclerc und Russell: Drei Runden griff der Monegasse immer wieder an, doch immer, wenn er sich den Engländer zurechtgelegt hatte, fuhr der ihm mit dem Heck vor die Front. Schließlich, nach drei Runden Tanz, ganz am Ende der Start- und Zielgerade, wagte Leclerc die Retourkutsche. Außen zog er vorbei und spät trat er auf die Bremse, setzte seinerseits erst kurz vor der Kurve sein Hinterteil vor die Nase von Russell. Endlich, nach der Hälfte des Rennen, war er vorbei. Die neue Reihenfolge lautete: Leclerc vor Russel, gefolgt von Sainz, Verstappen und Hamilton.

Mit Siebenmeilen-Reifen setzte sich Leclerc nun ab von Russell, kreiste eine Sekunde schneller als der Brite. Es lief eigentlich alles glatt für ihn, astrein, spitzenmäßig, blitzsauber. Bis, ja bis er zum zweiten Boxenstopp rausfuhr - um sich harte Reifen aufziehen zu lassen, obwohl diese zuvor schon nicht bei den zwei Alpines funktioniert hatten. Er brachte sie nie auf Temperatur.

Diese Schwäche erkannte Verstappen sogleich, wie ein Löwe die angeschlagene Antilope. Auf der langen Gerade schoss er an Leclerc vorbei. Und so lag Verstappen, als Zehnter gestartet, wie aus dem Nichts auf Siegkurs. Nicht mal ein spektakulär unnötiger Dreher, den man von ihm selten gesehen hat, konnte Verstappen davon abbringen, er kreiselte auf der Strecke, 360 Grad, einmal rum - und schwupps! War Leclerc wieder vorbei. Aber nicht lang. Denn schon kurz darauf überholte ihn Verstappen zum zweiten Mal - der auf den harten Reifen rollende Ferrari hatte der Kraft des Red Bull nichts, aber auch gar nichts mehr entgegenzusetzen.

Hamilton überholte seinen jungen Teamkollegen, und Carlos Sainz schleppte sich zumindest als Vierter ins Ziel. Aber er wechselte auch nie auf die weißen Reifen, die das Rennen Leclercs auf so tückische Weise ruinierten.

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