Süddeutsche Zeitung

Formel 1 in England:Schock und Show in Silverstone

Lesezeit: 5 min

In einem unvergesslichen Großen Preis von Großbritannien übersteht der Chinese Guanyu Zhou einen Horror-Crash nahezu unverletzt. Carlos Sainz holt sich im 150. Rennen den ersten Sieg - und Mick Schumacher fährt erstmals in die Punkte.

Von Philipp Schneider

Wenn sich die TV-Regie in der Formel 1 dazu entscheidet, minutenlang Rückblenden unter Verschluss zu halten, dann ist das Schlimmste zu befürchten. Und der Abflug, den der Chinese Guanyu Zhou am Sonntag beim Großen Preis von England in der ersten Kurve erlebte, war in der Tat so heftig, dass er sich in das kollektive Gedächtnis der Motorsportgemeinschaft einbrennen wird. 25 Minuten vergingen, ehe sichergestellt war, dass Zhou überlebt hatte und äußerlich unverletzt auf dem Weg zum Medical Center war.

Wer dann die nachgereichten Bilder sah, der glaubte zunächst, Zeuge eines Wunders zu werden, kurz darauf allerdings wusste er, dass es keine höhere Fügung war, die Zhou das Leben gerettet hatte, sondern einmal mehr der zum Glück sehr irdische Halo-Kopfbügel, der notfalls eine Last von 12 500 Kilogramm vom Fahrer abhält.

Als Neunter war Zhou losgerollt in das Rennen, nach ein paar Metern zog rechts Nicholas Latifi an ihm vorbei. Der Kanadier ließ dabei auf seiner rechten Seite George Russell stehen, der auf harten Reifen gestartet war und deshalb einen klaren Geschwindigkeitsnachteil hatte. Auch Pierre Gasly im Alpha Tauri strebte vorbei, touchierte aber den Mercedes von Russell und rotierte ihn so mit der Vorderseite in den Wagen von Zhou.

Der linke Vorderreifen des Silberpfeils drang in die rechte Flanke von Zhou, drehte so den Alfa Romeo auf den Kopf - beziehungsweise zum Glück auf den Halo -, und als der Wagen dann über den Asphalt schlitterte, stiegen Funken in Richtung Himmel. Sein Wagen drehte sich wie ein Kreisel, selbst im Kiesbett noch, dann hüpfte er wie ein Flummi über den meterdicken Reifenstapel am Ende der Kurve - und wurde erst vom Fangzaun gestoppt. An der Stelle, wo er kopfüber liegenblieb, hatten kurz zuvor noch Sportfotografen gestanden, die sich mit hastigen Spurts gerade noch in Sicherheit brachten. Und gleich hinter dem Zaun saßen Zuschauer, einige flohen auf der Tribüne nach oben.

Russell schob sich aus seinem demolierten Silberpfeil und rannte sofort hinüber zu Zhous Unfallort, auch solch eine Szene hat man selten erlebt in der Formel 1.

Die erlösenden Worte sprach schließlich Alfa-Teammanager Beat Zehnder: "Er spricht und scheint keine äußeren Verletzungen zu haben", sagte er auf Sky.

Der Unfall zog noch ein paar weitere Crashs nach sich. Die Piloten dahinter versuchten auszuweichen. Dabei stieß Sebastian Vettel den Williams von Alexander Albon an, der sich drehte und in mehrere Autos rumpelte. Schwer beschädigt strandete der Williams am Streckenrand. Albon wurde wie Zhou ins Strecken-Krankenhaus gebracht, blieb aber ebenfalls unverletzt.

Nach einer Stunde Pause wurde das Rennen mit einem stehenden Start wieder aufgenommen. Und nach 72 irrwitzig ereignisreichen Runden gewann Carlos Sainz im Ferrari vor Sergio Perez im Red Bull und Mercedes-Pilot Lewis Hamilton. Was für ein Podium! 150 Grand Prix hatte der Spanier auf seinen ersten Rennsieg warten müssen. Und Hamilton? Ja, tatsächlich: Hamilton. Der siebenmalige Weltmeister spürte bei seinem Heim-Grand-Prix im zehnten Rennen einer rundum verkorksten Saison erstmals wieder das gute alte Gefühl, in einem konkurrenzfähigen Auto zu sitzen. Selten gingen Schock und Show eine so denkwürdige Paarung ein wie am Sonntag in Silverstone.

Und so ging ein bisschen unter, dass Mick Schumacher in seinem 31. Auftritt in der Formel 1 zum ersten Mal in die Punkte fuhr. Er wurde Achter und griff in der letzten Runde sogar noch Max Verstappen an, der seinen beschädigten und deshalb an diesem Tag nicht konkurrenzfähigen Red Bull als Siebter über die Ziellinie schleppte. Drei Plätze hinter Ferrari-Pilot Charles Leclerc, der seinen Rückstand im Titelkampf auf 43 Punkte leicht verkürzen konnte.

Doch der Reihe nach.

Nach Zhous Crash war die Reihenfolge der Fahrer beim Wiederstart wieder dieselbe wie zu Anbeginn. Obwohl nach der turbulenten ersten Rennfreigabe das Feld ordentlich durcheinandergewirbelt worden war. Weil es aber keine ausreichende Zahl an Autos weit geschafft hatten wegen des verheerenden Unfalls, entschieden sich die Rennkommissare zu einer Wiederaufnahme in der ursprünglichen Reihenfolge.

Und diese enthielt ja auch bereits eine Premiere: die erste Pole Position von Carlos Sainz. Hinter ihm lauerte Verstappen, dahinter parkten deren Teamkollegen Leclerc und Perez, gefolgt von Hamilton, der sich auf einer seiner drei Lieblingsstrecken (neben Budapest und Montreal) erfolgreich für Parkbucht fünf beworben hatte. Sein Team hatte neue Teile mitgebracht nach Silverstone, und schon vor dem Start machten sie sich Hoffnung bei Mercedes, im Rennen erstmals in dieser Saison mithalten zu können mit Red Bull und Ferrari.

Beim ersten Start schoss Verstappen, der als einziger Fahrer an der Spitze die schnelleren weichen Reifen aufgezogen hatte, sogleich vorbei an Sainz - und Hamilton verbesserte sich sogar um zwei Positionen, indem er Leclerc und Perez umschlängelte, als wären sie antriebslose Pylonen. Nun, beim zweiten Start hatte Verstappen ebenfalls die mittelharte Mischung aufgezogen und diesmal behauptete Sainz seine Position, als er in der ersten Runde auf Kurs blieb. Hinter ihm gerieten beinahe noch Perez und Verstappen aneinander.

Nach sechs Runden reifte im Kopf von Hamilton erstmals der Glaube, dass sein optimierter Silberpfeil tatsächlich wieder ein Siegerauto sein könnte in Silverstone - er überholte Lando Norris und war schon Vierter. Nach zehn Umdrehungen unterlief Sainz ein Fehler, er musste die Strecke verlassen, Verstappen bedankte sich und überholte. Seine gehobene Stimmung währte allerdings nur drei Umdrehungen, dann wurde er langsamer und meldete an die Box, es gebe Probleme, die Mechaniker sollten sein Auto inspizieren.

Sie zogen ihm neue Reifen auf, als Sechster kehrte er zurück auf die Strecke - mit nunmehr 20 Sekunden Rückstand auf den Führenden. Und sein Problem war nicht einmal behoben. "Das Auto ist zu 100 Prozent kaputt", funkte er an seine Box. Offenbar hatte er sich die äußere Hülle so demoliert, dass die Aerodynamik darunter litt. Ab diesem Moment war klar: Für Verstappen würde es in Silverstone lediglich um Schadensbegrenzung im Titelkampf gehen.

Nach 21 Runden fuhr Sainz an die Box, er entschied sich für harte Reifen, auf denen er die Ziellinie erreichen würde. Und als kurz darauf auch noch sein Teamkollege Leclerc die Versorgungsgasse ansteuerte für eine letzte Rast, da schickten die Engländer am Rande der Start- und Zielgeraden Rufe der Verzückung in Richtung ihres Landsmanns Hamilton: der siebenmalige Weltmeister führte tatsächlich das Feld an. Endlich mal wieder.

Schon zuvor hatte er auf seinen 27 Runden alten Gummis einige schnellste Rennrunden in die Datenbanken geschickt. Und jetzt fuhr er immer weiter. Weil sich Sainz außer Stande sah, den Abstand zu verkürzen, ordnete Ferrari einen Platztausch seiner Fahrer an. 20 Runden vor Schluss rollte Hamilton 18 Sekunden vor Leclerc, aber er musste noch einmal halten. Seine Mechaniker in der Box bummelten etwas oder wirkten überrascht, jedenfalls dauerte der Reifenwechsel unnötig lang - der Brite war nun wieder Dritter und machte mit seinen neun Runden jüngeren Gummis Jagd auf die Ferraris.

Bis, ja, bis Ocon seinen Wagen wegen einer defekten Benzinpumpe seinen Wagen an einer Stelle abstellen musste, die das Safety Car auf den Plan rief. Ein letztes Mal wurden die Karten neu gemischt in diesem wilden Rennen. Sainz und Hamilton bogen in die Versorgungsgasse, um sich frische weiche Reifen abzuholen, Leclerc holte Ferrari nicht an die Box. Ein strategischer Fehler, der sich rächen sollte. Beim fliegenden Start musste er so seinen alten und harten Pneus vertrauen.

Die genügten nicht, um sich Sainz vom Hals zu halten, der sich sogleich die Führung schnappte. Aber im Kampf um die Plätze zwei und drei lieferten sich Perez, Leclerc, Hamilton, Norris und Fernando Alonso danach ein Finale Furioso, als würden sie plötzlich Go-Karts reiten. Sie überholten sich in fast jeder Kurve, ganz am Ende jedoch musste Leclerc sogar noch froh sein, dass er Platz vier vor Alonso über die Ziellinie bringen konnte.

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