Süddeutsche Zeitung

Etappengestaltung bei der Tour:Bergsprint durch die Pyrenäen

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Von Johannes Knuth, Bagnères-de-Luchon

Als die Organisatoren im vergangenen September den Kurs der aktuellen Tour de France präsentierten, konnte man im Pariser Palais des Congrès einem kleinen Hörspiel lauschen. Die Gäste raunten, tuschelten, ein paar japsten nach Luft - es war ja auch eine spektakuläre Route, die da vorgestellt wurde: ein Ausflug zur Mûr de Bretagne, Kopfsteinpflaster vor Roubaix, drei schwere Alpenetappen, die unter anderem über eine Schotterpiste führten, und, vor dem bergigen Zeitfahren, ein 65 Kilometer währender Bergsprint durch die Pyrenäen. Es war also ein atemraubender Parcours, oder, wie es Frankreichs Hoffnung Romain Bardet nach reiflicher Überlegung etwas differenzierter formulierte: "Grausam."

Ein Dreivierteljahr später haben die Radprofis das Gros dieser Plackerei bereits hinter sich, und man kann durchaus behaupten: Die 105. Tour ist das Fest der Unruhe, nach dem die Veranstalter sich sehnten; sie hat das Feld früh gefordert und zerrupft. Auch wenn das zu manchem Kollateralschaden führte, wie Rigoberto Uran, der auf der Pflasterschüttelei nach Roubaix stürzte und vor den Bergen aufgab. "Wir wollten den Kurs variieren, legendäre Anstiege mit ultradynamischen Formaten kombinieren", hatte Tour-Direktor Christian Prudhomme vor der Rundfahrt gesagt.

Das, befand der 57-Jährige, bürge für einen "modernen Radsport". Thierry Gouvenou, Prudhommes Streckenarchitekt, sagte zuletzt in einem Interview, er wolle mit der Unruhe auch die oft baugleichen Verläufe der Etappen zerbröseln, das "4 mal 4 des Radsports": vier Fahrer, die sich nach vier Kilometern absetzen, vier Minuten Guthaben erarbeiten und vier Kilometer vor dem Ziel eingefangen werden. Gouvenou befand: "Das ist doch ein Horror."

Die Tour sehnt sich also nach mehr Spektakel, aber ob das eine gute oder nicht so gute Idee ist, darüber sind sie sich im Peloton mittlerweile nicht mehr so ganz einig.

Die Etappe, in der sich die Sehnsucht nach Unruhe am meisten spiegeln wird, steht übrigens erst an diesem Mittwoch im Programm. Sie führt über drei schwere Pässe und ist nur 65 Kilometer lang, 43 davon müssen die Fahrer erklettern. Nach dem Start in Bagnères-de-Luchon geht es 15 Kilometer den Col de Peyresourde hinauf. Gleich danach wartet der halb so lange, aber steilere Col de Val Louron-Azet, und schließlich eine der fiesesten Schindereien dieser Tour: der Col du Portet, 16 Kilometer lang und im Schnitt 8,7 Prozent steil, gespickt mit unbequemen Haarnadelkurven. Es ist eine Quälerei, die sofort ins Blut geht, wie ein Cocktail, von dem man alles Antialkoholische fernhält. Oder, wie Streckenchef Gouvenou es etwas zurückhaltender formuliert: "Eine verrückte Prüfung."

Und weil das alles offenbar noch nicht verrückt genug ist, haben sie sich noch etwas einfallen lassen: Das Peloton wird sich am Mittwoch nicht wie üblich einrollen; die besten 20 Fahrer des Klassements reihen sich hintereinander auf und preschen dann los, wie in der Formel 1.

Cavendish, Gaviria, Kittel, Greipel: Vier der besten Sprinter sind in den Bergen gescheitert

"Die Fahrer am Ende des Feldes müssen sich erst mal nach vorne arbeiten", sagt Gouvenou - er hofft, so ein paar frühe Attacken zu provozieren. Und ein paar Einbrüche am finalen Anstieg. "Ich denke, das ist gut für den Radsport", hatte Romain Bardet vor der Tour gehofft, "das sorgt für Unsicherheit beim Gesamtführenden und macht das Rennen attraktiv." Der Gesamtführende hieß bis zum Dienstag, vor der Etappe nach Bagnères-de-Luchon, freilich weiter Geraint Thomas vom Team Sky, das die Tour in den vergangenen Jahren dominiert hat. Bardet büßte diesmal schon in Roubaix viel Zeit und Kraft ein, auch, weil sein Team ihm offenbar die falschen Reifen für die Pflasterprüfung aufgezogen hatte.

Das ist halt der Nachteil dieser ultradynamischen Formate: Die kleinste Schwäche wirft einen Fahrer weit zurück, manchmal ganz aus dem Rennen. Die Sprinter litten bereits in den Alpen unter den kurzen Kletterprüfungen: Sie müssen das Ziel innerhalb eines bestimmten Grenzwerts erreichen, der sich an der Zeit des Siegers bemisst, und je kürzer und schwerer die Etappe ist, desto strenger fällt die Karenzzeit aus. Mark Cavendish, Fernando Gaviria, Dylan Groenewegen sowie die deutschen Hoffnungen Marcel Kittel und André Greipel scheiterten an dieser Obergrenze, auch Rick Zabel und Marcel Sieberg. Ein ähnlicher Stellenabbau droht nun am Mittwoch. Greipel, der das Zeitlimit bei seinem siebten Tour-Besuch zum ersten Mal verletzt hatte, führte später aus, was er von diesem modernen Radsport hielt: nicht viel. Nach den Kopfsteinpflastern in Roubaix brauche man drei, vier Tage Ruhe, "der Körper hat überall Erschütterungen, egal, ob man gestürzt ist oder nicht", sagte er im ZDF: "Und hier fährt man danach drei Alpenetappen mit 13 000 Höhenmetern. Für mich ist dieses Spektakel zu viel gewesen in diesem Jahr."

Tour-Chef Prudhomme vom mächtigen Ausrichter ASO beteuerte später, dass die Strecke gar nicht so schlimm sei, einfacher sogar als in früheren Jahren. "Das hier ist die Tour", sagte er, und dieses Motto hat man in den vergangenen Jahren immer mal wieder gehört: L'Etat, c'est Aso, und die Fahrer sollen sich nicht so haben.

Tatsächlich trägt nicht nur die Strecke Schuld daran, dass die Sprinter diesmal mit einer dezimierten Reisegruppe zur finalen Kraftprobe Richtung Champs-Élysees aufbrechen werden. Kittel und Cavendish waren nicht gerade in der Form ihres Lebens angereist, Groenewegen zuvor gestürzt - doch Gaviria und Greipel kommen im Grunde gut über die Berge. Die Tour, befand die Sportzeitung L'Equipe zuletzt, habe halt noch ein neues Format erfunden: "Den verkehrten Sprint." Um in Paris zu gewinnen, müsse man diesmal nicht der Schnellste im Flachen sein - sondern der am wenigsten Langsame in den Bergen.

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Quelle:
SZ vom 25.07.2018
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