Süddeutsche Zeitung

Endgültiger WM-Kader:Zwischen Argument und Bauchgefühl

Lesezeit: 3 min

Von Benedikt Warmbrunn, Eppan

Am Ende erzählte Joachim Löw noch eine aufbauende Geschichte. Es war die Geschichte des Jonathan Tah aus dem Sommer 2016. Tah war vom Bundestrainer kurz vor Beginn der EM in Frankreich aus dem Kader gestrichen worden. Dann verletzte sich Antonio Rüdiger, Löw fehlte ein Innenverteidiger. Also rief er Tah an. Dessen Handy war aus. Zwei Stunden später probierte es Löw erneut. Dieses Mal meldete sich Tah und sagte, er sei vor zehn Minuten in Miami gelandet. Löw, ein Mann von Welt, erklärte daraufhin, dass ein Flugzeug, das gerade in Miami gelandet sei, in wenigen Stunden zurück nach Europa fliege; diese Maschine möge Tah bitte nehmen, denn er, Tah, habe doch keinen Urlaub, er habe eine EM zu spielen.

"Das", sagte Löw am Freitagmittag in Eppan, "kann auch noch passieren."

An diesem Samstag (18 Uhr) tritt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Klagenfurt zum WM-Test gegen Österreich an, für Löw und seinen Stab ist die Partie eine letzte Gelegenheit, um Eindrücke zu sammeln für die endgültige Kadernominierung. Am Sonntag, kündigte Löw an, "werden wir uns noch einmal die Köpfe heißreden", am Montag um 12 Uhr muss er dem Weltverband Fifa den endgültigen Kader für die WM in Russland mitteilen.

27 Spieler hat Löw ins Trainingslager in Eppan mitgenommen, vier muss er streichen. Anders als sein Assistent Thomas Schneider, der gesagt hatte, dass er vor diesem Schnitt "ein bisschen Angst" habe, blieb Löw demonstrativ cool: "Im Moment bin ich völlig entspannt." Doch obwohl er zum sechsten Mal als Cheftrainer einen endgültigen Kader erstellen muss, gestand er, dies sei "kein schönes Gefühl".

Eineinhalb Wochen lang hat Löw 26 Nationalspieler in Eppan beobachtet, Champions-League-Sieger Toni Kroos stößt am Sonntag dazu; er hat seinen Platz sicher. Gleiches gilt für Mats Hummels und Thomas Müller, die nicht mit nach Klagenfurt reisen werden - und auch für Jérôme Boateng, der nach einem Muskelbündelriss im Oberschenkel wieder zeitweise mit der Mannschaft trainiert.

Als weitere sichere WM-Teilnehmer nannte Löw noch Joshua Kimmich - und Marco Reus, der nach zweijähriger Leidenszeit einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat. Löw bezeichnete ihn zunächst als "wahnsinnig geschickt, intelligent, überraschend", als "Spieler mit außergewöhnlichen Fähigkeiten"; erst als er ihn auch noch als "eine Rakete" gekennzeichnet hatte, endeten die Schwärmereien. "Ich denke, wir können uns alle auf einen Marco Reus bei der WM freuen."

Die Spieler, die Löw dagegen streicht, wird er am Montagvormittag ins Trainerzimmer bitten und ihnen seine Entscheidung erklären: "Manchmal gibt es das eine oder andere Argument, manchmal ist es ein Bauchgefühl." Es zählen die Eindrücke aus Eppan, es zählen auch Eindrücke aus den vergangenen Länderspielen. Zudem geht es um die Balance im Kader, darum, was Löw während des Turniers erwartet und ob alle Positionen ausreichend besetzt sind. So dürfen Marvin Plattenhardt und Matthias Ginter auf einen Platz im Kader hoffen, weil sie auf den Außenverteidigerpositionen mögliche Back-ups wären.

Darauf darf auch Angreifer Mario Gomez zählen, als Ersatz für Timo Werner; dass Gomez zuletzt ein paar Wehwehchen hatte, erhöht gleichzeitig die Chancen von Nils Petersen. Der Freiburger soll gegen Österreich im Nationaltrikot debütieren, nach anfänglichen Schwierigkeiten, lobte Löw, "ist der Eindruck in den letzten Tagen immer besser geworden". Er hob hervor, dass Petersen variabel und laufstark sei, dass er defensiv mitarbeite - alles ideale Eigenschaften für einen Einwechselspieler. Eine weitere Überlegung dürfte sein, ob Löw vielleicht Spieler schützt, die er schon einmal gestrichen hat, also Sebastian Rudy oder Julian Brandt: Beide hatte er bereits vor der EM 2016 in Frankreich aus dem vorläufigen Kader entfernt.

Schließlich wird noch ein Torhüter gestrichen, Bernd Leno oder Kevin Trapp. Löw blieb am Freitag zwar bewusst zurückhaltend, was die Aussichten von Manuel Neuer nach dessen achtmonatiger Verletzungspause angeht. Auch über diese Personalie werde am Sonntag entschieden, zumal mit Neuer abgesprochen sei, dass dieser "offen und ehrlich" sage, ob er fit genug für die WM sei. Falls "alles okay" sei, werde Neuer gegen Österreich spielen. Er müsste sich aber schon erneut verletzen, um nicht mit nach Russland zu reisen.

Fast alle Spieler sind im Lauf der Woche gefragt worden, ob sie nervös seien vor der Nominierung, ob sie schon ein Zeichen bekommen hätten. Manche zögerten, manche waren betont selbstbewusst. Antonio Rüdiger reagierte gar mit einer Entspanntheit, wie sie selbst der ewig lässige Löw bewundern dürfte: "Wir werden sehen", sagte er, er beugte sich vor - "das ist meine Antwort."

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SZ vom 02.06.2018
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