Süddeutsche Zeitung

Deutsches EM-Aus:Einfach nur tieftraurig

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Die deutsche Nationalelf muss sich den Vorwurf machen, dass sie den Engländern in Wembley die Initiative überlassen hat. Der Abschied vom Bundestrainer fällt einigen Spielern schwer.

Von Martin Schneider

Jeder geht mit Niederlagen anders um. Leon Goretzka setzte sich nach dem Schlusspfiff auf den Boden, Serge Gnabry klatschte englische Spieler ab, wirkte aber so, als sei er mit den Gedanken ganz woanders, Mats Hummels ging zu seinen Dortmunder Vereinskollegen Jadon Sancho und Jude Bellingham, umarmte sie, wünschte ihnen mutmaßlich Glück für das Viertelfinale. Am schlimmsten erwischte es Joshua Kimmich, der auf dem Platz stand, die Lippen zusammenpresste, er kämpfte sichtlich mit den Tränen, Thomas Müller tröstete ihn, dabei hätte vermutlich auch jemand Thomas Müller trösten müssen.

Nur der Hauptdarsteller des Abends, er war bei vielen dieser Szenen schon verschwunden, er umarmte noch seinen Kollegen Gareth Southgate, dann verschwand er im Kabinengang. Joachim Löw verließ die Fußballbühne, ohne noch mal zurückzuschauen.

Manuel Neuer war dann der Erste am Fernsehmikrofon, das ist seine Pflicht als Spielführer. Neuer, das muss man wissen, gibt selten vollkommen ehrliche Interviews. Er setzt seine Autorität sparsam ein, nach dem WM-Aus 2018 hielt er etwa in Kasan eine Grundsatzrede, benannte Fehler, übte Kritik und man merkte, warum ausgerechnet er der Kapitän dieser Mannschaft ist.

Doch diesmal, als Neuer da stand, um ihn herum vibrierte noch der Höllenlärm dieses Fußballtempels namens Wembley, da hielt Neuer keine Ansprache, er wirkte einfach nur traurig. Leise analysierte er vor sich hin, sprach von einem ausgeglichenen Spiel, das auf der Kippe gestanden habe, von Räumen, die vielleicht mal da waren, von spielerischen Lösungen, die nicht gefunden wurden und von Chancen, die man hatte, die aber doch nicht reingingen.

Kapitän Neuer ist in seinen ersten Gedanken beim scheidenden Bundestrainer

Und dann sprach er über Joachim Löw. "Nach dem Abpfiff hab ich als Erstes Richtung Mittellinie geschaut, auch Richtung Trainerbank und es war schon ein sehr trauriges Gefühl, das muss ich ganz ehrlich sagen, als ich den Jogi jetzt gesehen habe, weil er ist auch ein klasse Mensch. Viele Spieler haben ihm viel zu verdanken", sagte Neuer und nickte stellvertretend in Richtung des ARD-Experten Bastian Schweinsteiger: "Ich denke, dass er eine klasse Ära geprägt hat und dass das heute so zu Ende geht, das ist sehr schade und sehr traurig."

Neuer hat schon viel in seinem Leben gewonnen, einen Europameistertitel noch nicht, und es definierte den Abend, wenn er sagt, dass seine ersten Gedanken nach der Niederlage beim Trainer waren, den man so nicht verabschieden wollte.

Dieses 0:2 gegen England im EM-Achtelfinale, es wird natürlich als letztes Spiel von Joachim Löw im Fußball-Almanach stehen und wie es Löw dabei ging, das wird er vielleicht später mal erzählen, am Dienstagabend wollte und konnte er das noch nicht. Natürlich wurde er gefragt, was ihm durch den Kopf ging beim Weg in die Kabine. "Die Enttäuschung ist da, viel mehr Gedanken sind im Moment noch nicht möglich", sagte Löw.

Natürlich werden nun in den jetzt folgenden Stunden und Tagen die 15 Jahre von Joachim Löw kritisiert und gewürdigt werden, aber vorher lohnt es sich auch noch mal, sich die 90 Minuten anzuschauen, die zu dieser frühzeitigen Bundestrainerbewertung geführt haben. Beide Trainer, Löw und Southgate, hatten sich für die gleiche Strategie entschieden, was vor allem dann ein schlechtes Zeichen für ein Spiel ist, wenn beide Trainer kein Risiko eingehen wollen.

Southgate schickte im Prinzip acht defensiv denkende Spieler aufs Feld, Löws Mannschaft wollte erkennbar einen Rückstand vermeiden und so standen sich die beiden Teams wie zwei schwerfällige Schwergewichtsboxer gegenüber, keiner wollte zuschlagen, weil man ja dann die Deckung entblößen würde. Timo Werners Chance (32. Minute) und Harry Kanes Gelegenheit nach Fehlpass Müller kurz vor der Pause - es waren Ausreißer.

Eine Mannschaft kann so spielen, gerade auswärts im Wembley-Stadion. Sie geht dann nur bewusst das Risiko ein, dass der erste Fehler oder die erste gelungene Aktion das Spiel entscheidet - sie muss den richtigen Moment finden, um das Spiel in die gewünschte Richtung kippen zu lassen. Den Moment verpasste Löw. Nach einem guten Schuss von Kai Havertz (46.) passierte in der zweiten Halbzeit eine halbe Stunde lang praktisch gar nichts. Dann übernahm England die Initiative. Wollte Löw wirklich so sein mutmaßlich letztes K.-o.-Spiel angehen? Wollte er warten, was passiert?

Die Fernsehkameras zeigten Löw nach dem Müller-Schuss, sein Gesicht fror ein

Dem Tor von Raheem Sterling in der 75. Minute ging jedenfalls eine saubere englische Passstafette voraus, deutsche Spieler waren zahlreich in der Nähe des Balls zugegen, eingreifen konnte keiner. Nach dem 0:1 wurde es nicht besser, im Gegenteil. Das DFB-Team schaltete nicht auf druckvollen Offensivfußball um und dennoch hatte Thomas Müller nach einem Ballverlust von Sterling die Chance, also die Chance, deren Bilder dieses Spiel überdauern werden. Alleine rannte er auf Jordan Pickford zu, er visierte die linke Ecke an und es wurde einer dieser Schüsse, bei dem man in jeder Wiederholung denkt, dass der Ball diesmal doch reingehen müsste.

Die Fernsehkameras zeigten Löw nach dem Müller-Schuss, sein Gesicht fror ein. Er schmiss sein Kaugummi weg. Und das frustrierendste aus deutscher Sicht an Harry Kanes entscheidendem 2:0 war, dass es kein Gegenstoß war, den das Team sich fing, weil es mit Gewalt auf das 1:1 gespielt hatte, sondern höchstens ein kleiner Konter. Serge Gnabry verlor den Ball, bedrängt in der Mitte, Mats Hummels hatte keine bessere Anspielstation gefunden. Am Ende nickte Kane zu seinem ersten Turniertor ein.

Löws Wechsel danach - Emre Can für Matthias Ginter, Jamal Musiala zwei Minuten vor Schluss - kamen zu spät, wirkten nicht schlüssig, vermutlich waren sie dann auch egal. "Nach dem 2:0 hatte ich das Gefühl, dass es schwierig wird, das Spiel noch mal zu drehen, es ging ja auch nur noch ein paar Minuten", sagte Löw später.

Er sprach noch kurz über seine Zeit danach, er werde eine Pause nehmen, vom Ruhestand habe er aber nie gesprochen. "Was ich tun werde, mal sehen. Im Moment hab ich keinen konkreten Plan", sagte Löw. In der Nacht flog er noch zurück nach Nürnberg, Fotos zeigten, wie der Bundestrainer als Erster das Flugzeug am Albrecht-Dürer-Airport verließ. Am Mittwoch steht nur noch eine Aufgabe auf dem Tagesplan: Die Verabschiedung von der Mannschaft, die sich gern anders vom Trainer verabschiedet hätte.

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