Süddeutsche Zeitung

Atalanta Bergamo:Der Klub zum EM-Achtelfinale

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Acht Profis aus sieben Ländern - kaum ein Verein ist so prominent in der K.-o.-Phase der EM vertreten wie der ehemalige Mittelklasseklub. Das hat viel mit den eigenwilligen Ideen des Trainers Gian Piero Gasperini zu tun.

Von Sebastian Fischer, Sankt Petersburg

Dass die deutsche Nationalmannschaft bei dieser Europameisterschaft weiterhin mitspielt, hat auch mit einem grauhaarigen, so eigenwilligen wie fußballweisen Mann aus dem Piemont zu tun. Robin Gosens, der Beste bei Deutschlands bislang einzigem guten Auftritt, hat es nach dem 4:2 gegen Portugal gesagt, als er nach dem Grund für seinen herausragenden Drang zum Tor gefragt wurde: "Da muss man Mister Gasperini danken."

Gian Piero Gasperini, 63, ist Gosens Trainer bei Atalanta Bergamo, jenem ehemaligen italienischen Mittelklasseklub, der sich in der vergangenen Saison zum dritten Mal in der Vereinsgeschichte und zum dritten Mal hintereinander für die Champions League qualifiziert hat. Das, was Gosens gegen Portugal zeigte, die Sprints in die Tiefe, den ständigen Blick nach vorn, das habe Gasperini aus ihm "herausgekitzelt", sagte der deutsche Linksverteidiger. Und damit ist er bei der EM nicht allein.

Neun Spieler aus Bergamo wurden in der Gruppenphase der EM insgesamt 22 Mal eingesetzt. Das ist zwar noch kein Spitzenwert, im Achtelfinale stehen nun aber acht Profis des Klubs aus sieben verschiedenen Ländern. Damit ist Atalanta in genauso vielen Nationalmannschaften vertreten wie die Champions-League-Finalisten FC Chelsea und Manchester City.

Der frühere deutsche Junioren-Nationalspieler Lennart Czyborra, 22, hat im vergangenen Jahr in Bergamo mit einigen jener Fußballer zusammengespielt, die sich nun auf großer Bühne auch dem Sommerpublikum vorstellen. Neben Gosens ist da zum Beispiel Marten de Roon, der defensive Mittelfeldspieler der Niederlande: "Ein absoluter Kämpfer, dem du immer den Ball zuspielen kannst", sagt Czyborra . "Aber er hat auch ein ordentliches Säbel" - er kann auch grätschen. Oder Ruslan Malinowski, der Ukrainer mit dem herausragenden Schuss, "seine Läufe in die Tiefe sind Weltklasse". Auch die Dänen beschäftigen einen Spieler aus Bergamo in der Stammelf, Außenverteidiger Joakim Maehle. Remo Freuler spielt für die Schweiz, Bergamos Kapitän Rafael Toloi und Matteo Pessina für Italien. Einzig Mario Pasalic kam für Kroatien bislang kaum zum Einsatz, nur fünf Minuten lang.

Wenn man Czyborra fragt, was die Besonderheit Bergamos sei, spricht er zuvorderst über den Trainer und seine Ideen. Gasperinis System ist ein eigenwilliges 3-4-3, offensiv und riskant. Nach vorne überlaufen sogar die Innenverteidiger auf dem Flügel mal die Außenspieler, um Überzahl zu schaffen. Nach hinten wird im Eins-gegen-eins verteidigt, der Gegner oft zum Kontern eingeladen. 90 Tore hat Bergamo in der Serie A geschossen, nach 98 Toren in der Vorsaison insgesamt zum dritten Mal in Serie die meisten aller Teams. Inzwischen gilt Gasperinis Fußball als Inspiration in Italien, auch für die Nationalmannschaft. Er selbst war von seinem Weg schon 2011 überzeugt, als er bei Inter Mailand nach fünf Spielen wieder entlassen wurde.

Der Trainer gilt als nicht gerade einfach im zwischenmenschlichen Umgang. Im Winter verließ in Papu Gomez der herausragende Offensivspieler den Klub im Streit. Gasperini hatte Gomez suspendiert, weil dieser sich einer taktischen Umstellung widersetzt hatte. Das System ist Gasperini wichtiger als Einzelspieler, das bestätigt auch Czyborra: "Er ist ein strenger Trainer mit seinem Bild vom Fußball. Das muss auch so umgesetzt werden. Er ist ein bisschen konservativ in seinen Methoden. Aber mit seiner Taktik hat er's allen bewiesen."

Czyborra, einst in der Jugend von Schalke 04, steht mit seiner Vita auch für zwei weitere, entscheidende Aspekte des Erfolgs von Atalanta: Eine Scouting-Abteilung, die sich in den Nischen auskennt - und ein Management, das die erspähten Talente anheuert und sie im Zweifel zahlreich wieder verleiht. Czyborra kam - wie vor vier Jahren der damals in Deutschland von keinem Profiklub beachtete Gosens - vom niederländischen Erstligisten Heracles Almelo. Anders als Gosens setzte er sich in Bergamo nicht durch und spielt inzwischen beim CFC Genua, für zwei Jahre ausgeliehen mit einer verpflichtenden Kaufoption im Anschluss. Die umstrittene, besonders in Italien verbreitete Ausleih-Strategie reglementiert der Weltverband Fifa inzwischen mit der Begrenzungen auf acht internationale Leihgeschäfte für Spieler ab 22 Jahren. Trotzdem sind es laut einer Auflistung des Branchenportals transfermarkt.de 49 Spieler, die Bergamo aktuell verliehen hat.

Hinzu kommt eine in Italien längst berühmte, hochgelobte Jugendabteilung. Einer der prominentesten in Bergamo ausgebildeten Profis ist Dejan Kulusevski, 21, mit Schweden steht auch er im EM-Achtelfinale. Für Atalanta bestritt er allerdings nur drei Profispiele, wurde verliehen - und dann teuer verkauft, zu Juventus Turin. Und möglicherweise ist das etwas, das auch einigen von Bergamos aktuellen Nationalspielern bevorsteht. Was sie alle gemeinsam haben? Sie wurden in Bergamo besser, manche wurden erst zu Nationalspielern. Und nun, sagt Czyborra, "könnten sie zu einem noch größeren Verein wechseln".

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