Süddeutsche Zeitung

Deutsche Nationalmannschaft:Alles goed nach dem Härtetest

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Die Partie gegen die Niederlande bietet beste Fußballunterhaltung: gewagte Experimente, Gerangel, Fouls und Schwalben. Vor allem aber lässt sie den Bundestrainer seine Elf aufs Neue kennenlernen.

Von Philipp Selldorf, Amsterdam

Louis van Gaal hatte die übliche Redezeit einer gewöhnlichen Pressekonferenz bereits deutlich überschritten, als er vor seinem in- und ausländischen Publikum eine einheimische Tradition aufleben ließ - er machte es sich nett und gemütlich. Der niederländische Trainer, auf dem Podium eher thronend als bloß sitzend, ließ sich von einer freundlichen Dame eine gute Tasse Kaffee servieren und genoss die Segnungen dieses Augenblicks: den Kaffee, das mitgelieferte Gebäck- sowie die hochverdiente Aufmerksamkeit der Reporter aus der Heimat und dem Nachbarland. Geradezu munter wirkte der Bondscoach.

Die Fußballwelt kennt van Gaal nach aufregenden Spielen auch ganz anders, aber am Dienstagabend war er wohltemperiert und tief entspannt. Seine Elftal und "Die Mannschaft", wie die Elf des DFB auf der Anzeigetafel in Amsterdam hieß (vielleicht ein Werbeslogan, den Oliver Bierhoff aufgreifen könnte?), hatten sich ein Kräftemessen geliefert, das seine hohen Ansprüche befriedigte. Das 1:1 (0:1) war ein Kompromiss zugunsten der in der Schlussphase arg aufgescheuchten Gäste, doch weder beschwerte sich van Gaal über das schmale Resultat noch über den Elfmeter, der seinem Team in einem durchaus fragwürdigen Videoverfahren vorenthalten wurde. Lieber schwärmte er von dem "goede wedstrijd", der guten Partie, und war sich darin gänzlich einig mit seinem Kollegen Hansi Flick, der ebenfalls gut gelaunt zur Nachbesprechung erschienen war.

"Die Zuschauer können sich freuen, dass sie so ein gutes Spiel gesehen haben", sagte der Bundestrainer, meinte das aber nicht als gönnerhaften Hinweis an die Gebührenzahler, sondern als Glückwunschadresse, und damit lag er ja nicht daneben: Zwei ambitionierte Teams gaben so ziemlich alles, was sie hatten, und ließen die vollbesetzte, von aller Maskenpflicht befreite Cruyff-Arena bis in die Schlusssekunden vibrieren. Für Flick war es ein aufschlussreicher Abend, dank eines endlich mal ebenbürtigen Gegners; im achten Monat seiner Beschäftigung fast eine Premiere, die ihm erlaubte, seine Elf noch mal aufs Neue kennenzulernen. Er erlebte, wie sie als kompakte, konzentriert agierende Einheit mit einem erstaunlich offensiven Selbstverständnis Druck auf das andere Team ausübte - und wie sie sich (mit etwas Glück) zu wehren wusste, als sie später etwas die Kontrolle einbüßte und selbst unter Druck geriet.

Defizite traten vorn wie hinten in Erscheinung, aber es fiel Flick nicht ein, nach deutscher Kritiker-Art die Schuldfrage beim Ausgleichstreffer zu erörtern. Hatte David Raum falsch gestanden, als hinter ihm die Flanke zum Ausgleich ihr Ziel erreichte? Waren Nico Schlotterbeck und Antonio Rüdiger nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen? Flick war es wichtiger zu sehen, dass dieser kürzlich noch in der zweiten Liga tätige David Raum nicht nur ein ungewöhnliches Talent fürs Flankenschlagen besitzt, sondern auch die fürs internationale Niveau relevante Zweikampfhärte aufbringt, und dass eine stellvertretende Doppelsechs mit Ilkay Gündogan und Jamal Musiala auch im Härtetest standhalten kann und dabei das Gleichgewicht zwischen defensiver Sicherung und offensiver Orientierung zumindest weitgehend beachtet.

Beide Trainer nutzen das Aufeinandertreffen für gewagte Experimente

Angeblich gibt es im Nationen-Fußball keine Freundschaftsspiele mehr, sondern gemäß dem Diktat der Zweckdienlichkeit nur noch Test- oder Pflichtspiele. Dieses Treffen wurde jedoch allen Kategorien gerecht: Die beiden Trainer nutzten die Möglichkeit für gewagte Experimente; die Teams bekämpften sich angemessen, Fouls, Gerangel und Schwalben (Timo Werner!) inbegriffen; der Umgang miteinander aber blieb sowohl auf den Rängen wie auf dem Rasen ausgesprochen herzlich. Bei einigen Szenen der Verbrüderung mag sich mancher Zuschauer an die früheren Feindseligkeiten der alten Fußball-Rivalen erinnert haben - aber außer ein paar betagten, zahnlosen Hooligans wird sich diese Zeiten wohl kaum jemand zurückwünschen.

Würde man nun behaupten, dieser verbindenden Veranstaltung habe der beispielhafte Geist von Christian Streich innegewohnt, wäre das übrigens keine Übertreibung. In den finalen Minuten der Partie hatte Streichs Freiburger Schule in Amsterdam eine Vormachtstellung: Kein Klub, weder der FC Bayern noch der FC Barcelona oder Ajax Amsterdam, hatte mehr Spieler im Einsatz als der SC Freiburg. Der eingewechselte Christian Günter verteidigte an der Seite von Nico Schlotterbeck, Mark Flekken hütete das Tor der Niederländer.

Auf mindestens ein Mitglied dieses Trios wird Streich demnächst wohl verzichten müssen: Schlotterbeck, 22, wächst gerade über die Reichweite des Sportclubs hinaus, sollte er im Sommer nicht von einem Großklub abberufen werden, wäre das gemäß den Branchengesetzen verwunderlich. Bisher galt Borussia Dortmund als logischer Interessent, aber das kann der FC Bayern eigentlich kaum zulassen, das müssten ihn die beiden Länderspiele gelehrt haben. Am Dienstagabend setzte Schlotterbeck frei von jeglicher Schüchternheit seine Selbstdarstellung im Nationaltrikot dort fort, wo er sie am Samstag gegen Israel begonnen hatte: Unerschrocken lebte er seine offensive Natur aus, wenn es die Situation hergab; mit Konsequenz und Entschlossenheit verteidigte er Manuel Neuers Tor, als die Holländer nach dem Ausgleich dominierten.

"Der Kader wird immer größer, das ist hervorragend für uns Trainer", findet Flick

Den Bayern dürfte es da ein bisschen wie Flick gehen. Sie sehen das besondere Vermögen dieses längst nicht ausgereiften Großtalents, aber sie haben halt in Gestalt von Lucas Hernández schon einen (teuren) Mann für seine Position im linksseitigen Deckungszentrum. Flick hat oft genug betont, dass in seiner Viererkette Niklas Süle und Antonio Rüdiger das bevorzugte Tandem bilden. Und jetzt? Alles bestens, meint der Bundestrainer. Die Testspielstrecke hat seine Zuversicht im Hinblick auf die WM gefestigt: "Der Kader wird immer größer, das ist hervorragend für uns Trainer", findet Flick.

In Amsterdam fehlte nicht nur die halbe Bayern-Fraktion (Joshua Kimmich, Leon Goretzka, Serge Gnabry und Süle), sondern auch eine Gruppe von Spielern, die Flick als "interessant" bezeichnete: Marco Reus, Florian Wirtz, Karim Adeyemi, Robin Gosens. Auch verspätete Talente wie Julian Draxler und Julian Brandt gehören auf den hinteren Plätzen immer noch zum XXL-Phantom-Kader, die Auswahl für die WM werde wohl "ein bisschen schwieriger werden", ahnt der Bundestrainer. Kein Mikrogramm Sorge beschwerte diese Feststellung.

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