Süddeutsche Zeitung

DFB-Elf bei der Fußball-EM:Deutschland gegen Polen - der Fluch des zweiten Spiels

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Von Philipp Selldorf, Évian

Am Dienstag um viertel nach fünf geschah das große Wunder, das nun als das Wunder von Évian in die deutsche Fußballgeschichte eingehen wird. Zwei Dinge traten gleichzeitig ein, die von großer Seltenheit sind: Erstens fiel gerade mal kein Regen vom grauen Himmel über dem Genfer See, und zweitens öffnete Joachim Löw die üblicherweise verschlossenen Pforten des Trainingsplatzes, so dass Presse, Funk und Fernsehen einen Blick auf die tägliche Arbeit der Nationalelf werfen durften. Dankbar strömten die Reporter in Massen herbei.

Sie sahen einen Bundestrainer, der seine Zeit nicht mit dem Errichten eines Slalomparcours oder mit dem Leiten von Aufwärmübungen verschwendete, sondern sich den wesentlichen Dingen widmete: Löw schnappte sich ein paar Bälle, jonglierte nach Lust und Laune und vollendete dann mit festem Torschuss. Nicht wenige Versuche verfehlten zwar das Ziel, das konnte ihm aber einerlei sein, brauchte er die Bälle ja nicht aus der Sandgrube im hintersten Stadionwinkel zu holen.

Schließlich musste sogar Löw das Feld räumen, seine Mannschaft benötigte den ganzen Platz. Aufgeteilt in zwei Teams übten sie Passspiel auf zwei Feldern mit vier kleinen Toren. Jedes Team zählte neun Spieler, zwei weitere - Mario Götze und Mesut Özil - bildeten das Scharnier zwischen den Feldern.

Noch mehr Aufsehen erregte die Verteilung der Leibchen: Denn aus der Startelf vom Sonntag mussten Julian Draxler und Shkodran Mustafi ihre Plätze an André Schürrle und Mats Hummels abtreten. Kaum hatten die Reporter diese Weltsensation erkannt, mussten sie aber den Ort verlassen - ihre Aufenthaltserlaubnis war abgelaufen. Was danach hinter dem Vorhang geschehen ist, blieb Staatsgeheimnis.

Theoretisch könnte es also sein, dass der Bundestrainer gleich nach dem Verschwinden der Augenzeugen die Leibchen wieder an Draxler und Mustafi hat verteilen lassen. Und dass er sich jetzt freut, wie er für seinen polnischen Kollegen Adam Nawalka eine falsche Fährte gelegt hat mit seinem Leibchentrick, weil er in Wahrheit natürlich nach dem alten Grundsatz des "Never change a winning team" handelt - zumal er seit seinen Anfängen als Chefbundestrainer bei der EM 2008 jedes Mal im zweiten Turnierspiel die Elf aus dem ersten Turnierspiel aufgestellt hat.

Andererseits könnte es tatsächlich sein, dass Löw erwägt, ein wenig zu wechseln: Der Stammspieler Hummels, so viel ließ sich während der Viertelstunde erkennen, ist wieder voll im Training, er habe "der Belastung standgehalten", teilte Löw später mit. Über eine Beförderung in die Startelf wolle er aber erst nach Rücksprache mit den Ärzten befinden. Schürrle hat schon am Sonntag beim Spiel gegen die Ukraine Draxlers Position auf der linken Seite übernommen.

Über die Aufstellung darf also bis zum Anpfiff im Stade de France munter spekuliert werden. Nur Shkodran Mustafi hat erklärt, an den Spekulationen nicht teilzunehmen. Befragt, ob er sich Chancen ausrechne, wieder mitspielen zu dürfen, sagte der Verteidiger und Schütze des ersten deutschen Turniertores: Er sei "niemand, der sich irgendetwas ausrechnet - in Mathematik war ich sowieso nie der Beste".

Nur zwei von acht

Am nötigen Respekt vor dem Gegner wird es den Deutschen nicht mangeln, was aber nicht nur an den Polen liegt. Das zweite Turnierspiel ist eine Hürde, mit der die Deutschen nicht erst seit der Ära Löw ihre speziellen Probleme hatten. Genauer besehen, ist das zweite Gruppenspiel bei Europa- und Weltmeisterschaften der deutsche Angstgegner schlechthin, unabhängig davon, ob ein nominell großer oder kleiner Widersacher auf dem Spielfeld steht.

Die Bilanz im 21. Jahrhundert liest sich nicht wie die einer großen Fußballnation. EM 2000: 0:1 gegen England; WM 2002: 1:1 gegen Irland; EM 2004: 0:0 gegen Lettland; EM 2008: 1:2 gegen Kroatien; WM 2010: 0:1 gegen Serbien; WM 2014: 2:2 gegen Ghana. Die Ausnahmen bilden das 1:0 gegen Polen bei der WM 2006, eine Art Urknall des deutschen Fußballs. Und das 2:1 gegen Holland bei der EM 2012. Aber Holland hat - kein fauler Hollandwitz - vor vier Jahren alle Vorrundenspiele verloren.

Warum deutsche Mannschaften über Generationen hinweg mit dem zweiten Gruppenspiel solche Schwierigkeiten haben, ist wissenschaftlich nicht ergründet. Löw lässt sich nicht auf historische oder esoterische Spekulationen ein, er betreibt weiter seine akademische Lehre, die sogar winzige Zeiteinheiten erfasst. "Was wir noch verbessern müssen: Dass wir früher zum Abschluss kommen. Manchmal haben wir den Moment um eine Zehntelsekunde verpasst", sagte er am Mittwoch.

Die Begegnung mit Polen bietet nun den Reiz, den Schatten, der auf der Geschichte der zweiten Vorrundenspiele liegt, blitzartig loszuwerden: Mit einem Sieg wäre der DFB-Elf der Gruppensieg nicht mehr zu nehmen, und dann wäre die Partie gegen Nordirland nur mehr eine Pflichtübung, die Mats Hummels zum Einspielen für den zweiten Teil des Turniers nutzen könnte.

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SZ vom 16.06.2016
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