Süddeutsche Zeitung

Der Eiskanal von Whistler:Mahnmal für irregeleitetes Denken

Lesezeit: 3 min

Der tödliche Unfall bei Oympia in Vancouver soll nichts mit der Wettkampfstätte zu tun haben. Doch diese gilt als zu schnell.

Volker Kreisl, Whistler

Um kurz vor elf Uhr am Freitagvormittag war die laute Musik mit einem Schlag aus. Stille legte sich über den Eiskanal des Whistler Sliding Centre, jener knapp anderthalb Kilometer langen Wettkampfstätte, die trotz ihrer Gefährlichkeit immer wieder als Herausforderung gepriesen wurde, und die für die kommenden zwei Wochen eine Partymeile werden sollte.

Aber um kurz vor elf war der Georgier Nodar Kumaritaschwili in Kurve 16 vor dem Ziel verunglückt. Er war aus der Bahn geschleudert worden und gegen den Stahlträger des Zieldachs geprallt. Kumaritaschwili wurde sofort ins Krankenhaus geflogen, eine Stunde später erlag er seinen schweren Verletzungen. Er wurde nur 21 Jahre alt.

Die Stimmung kippt in Trauer

Ein Olympiateilnehmer, der unmittelbar vor Beginn der Spiele im Training stirbt - das übertraf die Vorstellungskraft aller Sportkollegen, Trainer und Funktionäre. Nicht nur in Whistler, auch an allen anderen Orten war Olympia ja in voller Vorfreude auf die Eröffnung am Abend. Als die Nachricht dann auf den vielen TV-Monitoren in den Pressezentren und auf den Plätzen übertragen wurde, war Olympia zunächst fassungslos, dann kippte die Stimmung um in Trauer.

In Vancouver traten anderthalb Stunden später Jacques Rogge, Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), und John Furlong, Chef des Organisationskomitees Vanoc, vor die Presse.

Sie bestätigten den Tod Kumaritaschwilis und kondolierten seinen Angehörigen, beide kämpften mit den Tränen. Bei der Eröffnungsfeier am Abend gedachte Rogge an den Tod des georgischen Rodlers, im Zentrum von Whistler stellten Trauernde ein Bild des Verunglückten auf, Passanten legte Blumen nieder.

Oben in den Bergen, an der Rodelbahn, war da von Sport längst nichts mehr zu sehen. Sämtliche Trainingsläufe waren ausgesetzt, das Material verstaut, kurze Zeit später riegelten Staatsanwaltschaft und Polizei die Anlage weiträumig ab, auch das Pressezentrum wurde geschlossen.

Es wird keine Eiskanalroutine mehr geben können

Für einen halben Tag schien es hier, als stünde die Zeit vor den Spielen still. Erst am späten Abend, als die Behörden die Ermittlungen am Unglücksort abgeschlossen hatten, fiel die Entscheidung, die Wettkämpfe mit leichten Bahnveränderungen im Bereich der Unfallstelle aber ansonsten wie geplant zu starten. Das erste von vier Durchgängen bei den Männern soll also um 17.00 Uhr (Sonntag, 2.00 Uhr MEZ) beginnen.

Die meisten der Rodler dürften die Nachricht mit Erleichterung aufgenommen haben, obwohl sich am Abend manche noch tief schockiert zeigten. Aus dem Lager der Deutschen war zu hören, dass die Mehrheit wieder starten wollte, ähnlich die Österreicher.

Man glaubt, mit dem Erlebnis - manche hatten den Unfall ja auf den Videowänden verfolgt - zurechtzukommen und die nötige Konzentration aufzubringen. Klar ist dennoch, sämtliche Wettkämpfe auf dieser Bahn, Rodeln, Skeleton und zum Schluss die Bobentscheidungen werden sich stark unterscheiden von der bisherigen Eiskanalroutine während der zwei olympischen Wochen.

Zu spät aus Kurve 15 gekommen

Die Bahn selber wird an der Unfallstelle im Eisaufbau entschärft, die Wände zum besseren Schutz erhöht. Der Internationale Rodel-Verband (FIL) erklärte am Abend, Besichtigungen und Videostudien hätten ergeben, dass Kumaritaschwilis Unfall nichts mit eventuellen Schwachstellen der Bahn zu tun habe.

Die Rekonstruktion des Geschehens habe ergeben, dass der Georgier "zu spät aus Kurve 15 kam, und keine korrekte Einfahrt in Kurve 16 vornehmen konnte". Obwohl der Athlet dagegen angehen wollte, habe er die Kontrolle über den Schlitten schließlich verloren.

Augenzeugen berichteten, Kumaritaschwili sei erst gegen die rechte, dann gegen die linke Bande geprallt und von den starken Kräften schließlich nach oben geschleudert worden. Vor dem Eintritt in die Unfallsstelle war er mit einem Tempo von 144,3 Stundenkilometer gemessen worden.

Das hohe Tempo und die fünffache Gravitationskraft in der langgezogenen Schlusskurve, die weniger Geübten die Kontrolle erschwert, ist der Hauptkritikpunkt an der Bahn von Whistler.

Früh als zu schnell kritisiert

Die FIL betonte dennoch, dass der Fahrfehler, der zum Unfall führte, nicht durch Schwachstellen der Bahn verursacht worden sei, die Rennen somit gestartet werden können.

Die Diskussion dürfte dennoch die kommenden Wettkämpfe begleiten, schließlich hatte FIL-Präsident Josef Fendt selbst die Anlage schon früh als zu schnell kritisiert. "Wir hatten sie für maximal 137 Stundenkilometer geplant. Aber sie ist fast 20 Stundenkilometer schneller. Wir sehen das als Planungsfehler."

Die Entschärfung der gefährlichen Kurve 13 genüge für die Freigabe, hieß es zu Saisonbeginn, die hohe Geschwindigkeit von bis zu 154 km/h müsse man nun akzeptieren. Es wurde seither in der Szene weitergestritten über die Frage, ob Unfälle nicht doch mit der Höchstgeschwindigkeit zu tun haben, ob man so eine Bahn verantworten könne und warum Höchstgeschwindigkeit überhaupt immer wieder sein muss.

Die Bahn von Whistler war umstritten, seit Freitag wirkt sie wie ein Mahnmal für ein irregeleitetes Denken im Sport. Die olympischen Wettkämpfe finden darauf dennoch statt.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.76234
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/pak
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.