Süddeutsche Zeitung

Letztes DDR-Länderspiel vor 30 Jahren :"Ich dachte, ich wäre auf einem Sklavenmarkt"

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Am 12. September 1990 absolviert eine Rumpftruppe das letzte Länderspiel der DDR. Manche Spieler machen anschließend in der Bundesrepublik Karriere, andere scheitern - wie Jörg Stübner, der einstige Popstar des DDR-Fußballs.

Von Thomas Hummel

Jörg Stübner, genannt Stübs, fuhr damals natürlich nach Kienbaum ins Brandenburger Sportzentrum. Er war Fußballer, sein Verband lud ihn zum Länderspiel ein, wie schon 46 Mal zuvor. Als er dort ankam, sah er allerdings kaum ein bekanntes Gesicht. Viele, mit denen er jahrelang sein Land vertreten hatte, kamen nicht. Denn im September des Jahres 1990 war sein Land dabei, sich abzuschaffen. Die DDR sollte es bald nicht mehr geben. Und auch Jörg Stübners Leben begann zu zerbröseln.

Die Erinnerungen an das letzte Fußball-Länderspiel der DDR vor 30 Jahren drehen sich zumeist um Matthias Sammer. Er war schon ein sogenannter Star, spielte bereits in der Bundesliga für den VfB Stuttgart. Auch er wunderte sich in Kienbaum - und wollte sofort wieder abreisen. Kein Andreas Thom, kein Ulf Kirsten, kein Thomas Doll, kein Rico Steinmann, kein Bernd Hobsch. 22 Spieler hatten Trainer Eduard Geyer abgesagt, viele meldeten sich verletzt, obwohl sie es gar nicht waren. Rainer Ernst, schon in Kaiserslautern unter Vertrag, teilte mit, ihm fehle die Motivation für ein DDR-Länderspiel. Dirk Schuster, der zum Zweitligisten Eintracht Braunschweig gewechselt war, erklärte sich zum BRD-Bürger.

"Ich habe wie ein Blöder rumtelefoniert, dass wir überhaupt 16 Spieler zusammenbekommen", berichtete Trainer Geyer später. Dabei waren es am Ende nur 14. Sammer war in Kienbaum abends noch zum Flughafen gefahren, um zu sehen, ob noch ein Flieger nach Stuttgart geht. Ging aber keiner mehr und so blieb er letztlich und führte die Auswahl des Deutschen Fußball-Verbands (DFV) zu ihrem letzten Spiel als Kapitän auf das Feld. Im Vanden-Stock-Stadion in Brüssel siegte die DDR mit ihrer Rumpftruppe völlig überraschend 2:0. Tore: Zweimal Sammer.

Stübner trieb einst Michel Platini zur Verzweiflung

Jörg Stübner war damals 24 Jahre alt, mit 47 Länderspielen der erfahrenste im Team. Mit Dynamo Dresden war er gerade zum zweiten Mal Meister geworden, ein Jahr zuvor im Halbfinale des Uefa-Cups gestanden. Seinen berühmtesten Auftritt hatte er schon mit 19 gehabt, als er im Länderspiel gegen Frankreich Michel Platini zur Verzweiflung getrieben und Maßgebliches zum 2:0 der DDR gegen den damaligen Europameister beigetragen hatte. Seitdem nannte man ihn Rasenmäher, Staubsauger, Terrier - er lief für drei und hatte auch Talent im Aufbauspiel. Fußballerisch war er bereit für eine Karriere im Westen wie so viele andere in diesen Tagen aus der DDR. Doch der Mensch Jörg Stübner packte das nicht.

Auf die Nationalspieler prasselte in der Wendezeit nicht nur rund um das letzte Spiel in Brüssel einiges ein. Das wichtigste Länderspiel ihrer Karriere hatten sie schon ein knappes Jahr vorher gehabt, am 14. November 1989. Damals waren die Spieler auch zur Vorbereitung in Kienbaum gesessen und sahen dort im Fernsehen, wie die Berliner Mauer fiel. In Wien hätte ihnen dann ein Punkt gereicht, um sich für die Weltmeisterschaft in Italien zu qualifizieren. Doch es kam anders. Toni Polster schoss drei Tore, Rico Steinmann vergab einen Elfmeter. Aus der Traum.

Die Späher der Westklubs saßen dabei nicht nur auf der Tribüne in Wien, Leverkusens Manager Reiner Calmund hatte einen Mann per Fotografen-Akkreditierung in den Innenraum des Stadions geschmuggelt, als "U-Boot", wie er später stolz erklärte. Dieser Mann schaffte es auf die Ersatzbank der DDR, wo er Kontakte knüpfte zu Sammer, Thom und Kirsten. Calmund brüstete sich damit, dass er bereits 24 Stunden nach dem Spiel bei Familie Thom im Wohnzimmer saß, mit Blumen und Pralinen für die Ehefrau und Spielzeug für die Tochter. Die Jagd war eröffnet, wer sollte da noch ein WM-Quali-Spiel gewinnen?

Im September 1990 musste niemand mehr inkognito arbeiten, die DDR-Spieler waren lukrative Ziele für die Geschäftemacher des Fußballs. Trainer Geyer schimpfte in dem Buch "Eduard Geyer - Einwürfe" (Eulenspiegel-Verlagsgruppe): "Ich weiß noch sehr genau, wie nach dem Spiel plötzlich diverse Spielerberater um uns herumturnten. Es war beschämend wie sich einige von denen aufführten. Rücksichtslos sind die an die Spieler rangegangen. Ich dachte, ich wäre auf einem Sklavenmarkt." Es sei erschreckend gewesen, wie da gefeilscht und gehandelt wurde: "Das war für uns völlig neu."

Stübner war mit der Situation im Westen überfordert

Viele gingen in den Westen, auch aus der Rumpftruppe von Brüssel. Doch Jörg Stübner war mit der Situation überfordert. Mit 13 Jahren war er aus seiner Heimatstadt Halle nach Dresden geschickt worden in die Kinder- und Jugendsportschule (KJS), dort hatte er so Heimweh, dass seine Familie hinterher zog. Nur auf dem Fußballplatz fühlte er sich wohl, mit 17 Jahren schon debütierte er in der ersten Mannschaft. Seine Mutter ist Friseurin und schnitt dem Buben eine moderne Popper-Locke, was ihm zum Schwarm von Fans und Teenagern machte. Daneben aber war er offenbar abhängig von der Rundumversorgung des Internats. Denn als diese nach der Wende sukzessive abgebaut wurde, geriet Stübners Leben ins Rutschen. Weil es keine Kantine mehr gab, ernährte er sich von Fertiggerichten aus der Dose. Beim Länderspiel in Brüssel soll ihn Trainer Geyer am Spieltag in einem Café mit großem Sahne-Eisbecher ertappt haben.

Angebote aus dem Westen will Stübner nicht annehmen, er bleibt in Dresden, steigt 1991 in die erste Bundesliga auf, wo er noch fünf Spiele macht. Was danach passiert, hat unter anderem der Autor Uwe Karte in dem Buch "Stübner - Popstar wider Willen" aufgeschrieben. Stübner kam nicht klar mit der neuen Freiheit, seine Eltern ließen sich scheiden, er brach den Kontakt zum sehr ehrgeizigen Vater ab, war oft verletzt, trank zu viel Alkohol. 1993 fand er die Kündigung seines Klubs im Briefkasten. Er fühlte sich "rausgetreten wie ein nasser Hund". Trainer Geyer holte ihn zu Sachsen Leipzig, doch Stübner schaffte es nicht mehr, zog sich immer weiter zurück. 1995 starb er fast an einem Tablettencocktail. Gastspiele in verschiedenen Provinzklubs waren schnell wieder vorbei.

Mit den Medien sprach er fast nie, nur das WDR-Magazin Sport Inside durfte ihn 2010 besuchen. Dort erzählte Stübner von Problemen nach der Wende: "Mir ging es damals wie vielen anderen DDR-Bürgern auch, dass plötzlich der Umbruch kam und viele Leute nicht mehr zurecht gekommen sind mit dem neuen System, mit der neuen Freiheit." Er bezog damals Hartz IV, ging zum Psychologen. Er glaubte, in der DDR wäre es ihm besser ergangen, wie er in Kartes Buch sagt: "Heute wäre ich Major der Volkspolizei, hätte über einhundert Länderspiele sowie ein Haus mit Frau und Kindern."

Beim Abschiedsspiel von Ulf Kirsten 2003 ließ er sich von seinem alten Kumpel aus der Dresdner Jugendzeit zu einem Auftritt überreden, er schoss für "Ulfs Dream Team" ein Tor. Der Verein bot ihm Hilfe an, besorgte ihm eine Bleibe. Doch richtig kam Jörg Stübner nie in der neuen Welt an. Am 24. Juni 2019 fand ihn seine Mutter tot in seiner Wohnung. Mit 53 Jahren.

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