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Darts-WM:Wie gaga ist Gabriel "Gaga" Clemens diesmal?

Lesezeit: 3 min

Nach seinem Auftaktsieg bei der Darts-Weltmeisterschaft steht fest, dass der beste deutsche Profi im Londoner "Ally Pally" auch nach Weihnachten um den Titel mitspielen wird.

Von Korbinian Eisenberger, London

Sind die alle meinetwegen hier? Das sprach aus seinem Blick, ehe er es in knappe englische Worte fasste. "A lot of cameras", sagte Gabriel Clemens. "Last year it was not so." Der Darts-Sportler neigt dazu, sich kurz auszudrücken. Lange Sätze sind nicht seine Leidenschaft, es sei denn, er gewinnt sie. Und genau das hatte er kurz zuvor erledigt.

Seit Clemens' 3:1-Erfolg gegen Außenseiter Man Lok Leung aus Hongkong am späten Donnerstagabend ist gesichert, dass der beste deutsche Darts-Profi auch nach Weihnachten weiter um den Titel bei der Weltmeisterschaft mitspielen wird. Und nicht nur er: Auch Ricardo Pietreczko, Martin Schindler und Florian Hempel sind weiter. Damit haben erstmals vier deutsche Vertreter die dritte Runde erreicht. Der Weltranglisten-22. Clemens trifft dabei am 27. Dezember auf den an elf gesetzten Briten Dave Chisnall. Auf Nachfrage zu seinem Gegner erklärte Clemens lapidar, dass er vorhabe, gegen ihn zu gewinnen. Ein echter Clemens.

Kurz zuvor hatte er sich vor den 3000 Fans eine kleine, feine Auszeit gegönnt. Er schenkte den dritten Satz her, als wolle er die Heiligabend-Bescherung vorverlegen. Sekunden später zischten seine Pfeile wieder ähnlich zielsicher in die Scheibe wie das Bier in die Kehlen der Zuschauer im Londoner Alexandra Palace.

Innerhalb von Minuten trifft Clemens zweimal exakt die Kombi aus Triple-20, Einfach-20 und Doppel-20

Bei den Buchmachern ist Chisnall gegen Clemens leichter Favorit auf den Achtelfinaleinzug. Unterschätzen allerdings werden sie den Deutschen hier im "Ally Pally" kaum. Nicht nur wegen seines Triumphzugs vor einem Jahr, als er als erster Deutscher ins Halbfinale vorstieß (wo er gegen den späteren Weltmeister Michael Smith aus England verlor). Es gab und gibt Anhaltspunkte, dass abermals mit dem Saarländer zu rechnen ist.

Addieren und Subtrahieren zählt zu seinen Stärken, etwa wenn es darum geht, sich die Pfade aus Punktkombinationen zu erschließen, die im Darts zum Erfolg führen. In seinem ersten Spiel bei dieser WM trug es sich etwa zu, dass die Partie kurz davor stand, zugunsten seines Gegners zu kippen. Satz eins hatte Clemens gewonnen, in Satz zwei setzte ihn Man Lok Leung gehörig unter Zugzwang. Und was machte Clemens?

Er bereitete gegen den druckvollen Mann aus Hongkong zweimal das sogenannte Shanghai-Finish vor - also 120 Punkte Rest, alles andere als eine einfache Aufgabe. Doch dann machte "Gaga" wieder Gaga-Sachen: Innerhalb von Minuten traf er zweimal exakt die Kombi aus Triple-20, Einfach-20 und Doppel-20 zum Finish. Umgerechnet also: 120. Check. Und am Ende: Sieg.

"Gaga" wird im Wörterbuch unter anderem mit "trottelig" umschrieben. Netter ausgedrückt: unperfekt, normal eben. Nicht Instagram-frisiert und auch nicht Fitnessstudio-gestählt. Man könnte sich Clemens und manch andere seiner Kollegen im Pfeilesport auch gemütlich auf einer Fernsehcouch vorstellen, direkt neben Onkel Waldemar.

Erstmals bei dieser WM war der Ally Pally in deutscher Hand, wie es so schön heißt

In der ersten Reihe im Ally Pally saß am Donnerstagabend seine Freundin Lisa und fieberte in Begleitung von Freunden mit. Auch ihr, die vergangenes Jahr schon hier saß, dürften die vielen schwarz-rot-goldenen "German Giant"-Outfits aufgefallen sein, die sich an den Tischen und auf den Rängen der Haupthalle tummelten. Erstmals bei dieser WM war der Ally Pally in deutscher Hand, wie es so schön heißt. Oder eher: in Gagas Hand.

Gerade im Darts steht "gaga" für verrückt und ausgeflippt. So gesehen passt dieser Kurzname ganz und gar nicht zu Clemens: Der 40-Jährige lebt mit Freundin Lisa zurückgezogen in Saarwellingen, fährt mit dem Auto zum Training. Dort, in einem Raum, in dem sich nichts weiter befindet als eine Kaffeemaschine und eine Dartsscheibe, übt er vier Stunden, am häufigsten die Triple-20. Einst hat er Schlosser gelernt und jahrelang in der Werkstatt gearbeitet. Darts spielt er seit 21 Jahren, aber erst seit 2018 professionell. Sein Zuhause, die Ruhe, all das bleibe zentral für ihn, das betonte er am Donnerstag im Ally Pally einmal mehr: "Erst mal fliege ich morgen heim, feiere Weihnachten mit meiner Familie." Danach gehe es "mit neuen Kräften zurück hierher".

Der SZ hat er mal erklärt, dass er sich gut auch eine Rückkehr an die Werkbank vorstellen könne, sollte es im Darts nicht mehr laufen. Eventuell muss die Mechanikerbranche noch etwas länger auf ihn verzichten.

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