Süddeutsche Zeitung

Chile feiert Vidal:Beifall für den Alkoholraser

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Von Javier Cáceres, Santiago de Chile

Auch nach dem 5:0-Sieg Chiles gegen Bolivien war die Ferrari-Suff-Fahrt des Arturo Vidal noch allgegenwärtig. Es sei ganz und gar eine schwierige Woche gewesen, bekannte etwa der chilenische Mittelfeld-Veteran David Pizarro nach dem abschließenden Spiel der Gruppe A der Copa América und meinte damit: all die Debatten um den richtigen Umgang mit dem Kollegen Vidal.

Der Juventus-Turin-Profi hatte am Dienstag im trunkenen Zustand seinen neuen Ferrari zerlegt und war dabei dem Knast nur knapp entkommen. Seine vornehmste Rolle als ältester Spieler im Kader habe darin bestanden, die Hitze der Lage zu bekämpfen, sagte Pizarro, 35, vor den Medienvertretern im Nationalstadion von Santiago: "Ich habe vieeeeel, vieeeeel Eis dazu geben müssen." Da stutzte ein Reporter im Bauch des Nationalstadions von Santiago: Eis? "Aber jetzt nicht für die Drinks - oder?!?!", fragte der Berichterstatter mit gespieltem Kummer nach - und brachte den zuvor bierernsten Pizarro damit zum Lachen.

Pizarro, Mittelfeldspieler bei der Fiorentina, ließ selbstverständlich ein trockenes Nein folgen. Das heißt: Soweit man bei der mit zahlreichen Zirrhose-Kandidaten gespickten chilenischen Mannschaft in solchen Zusammenhängen tatsächlich noch von selbstverständlich reden kann.

Selfies mit dem Trunkenheitsfahrer

Der kurze Dialog in der Interview-Zone war so etwas wie der abschließende Beweis dafür, dass sich die Debatte rund um Vidal in Chile doch schneller beruhigt, als in den ersten Stunden nach dem alkoholschwangeren Crash zu vermuten war. Vidal war am Dienstag, seinem freien Tag, bei einem Grillfest seines Mitspielers Gery Medel gewesen; danach hielt er in einem Kasino, nahm nach eigenen Angaben zwei Drinks zu sich und verursachte bei massiv überhöhter Geschwindigkeit etwa 25 Kilometer vor Santiago einen schweren Auffahrunfall.

Dennoch ließ es sich die sozialistische Staatspräsidentin Michelle Bachelet alias "die Chefin" nicht nehmen, nach dem Kantersieg gegen die (übrigens peinlich schwachen) Bolivianer in der Kabine vorbeizuschauen und für Selfies zu posieren - unter anderem mit Arturo Vidal selbst. Der Juventus-Turin-Profi hatte zuvor schon die Zuneigung des ganz überwiegenden Teils des restlichen Publikums erfahren. Da hätte man vorher nicht darauf wetten müssen. Arturo Vidals Frau Maria Teresa, die beim Unfall auf dem Beifahrersitz saß und sich den Ellenbogen ausgekugelt hatte, saß ebenfalls auf der Tribune - mit Gipsarm.

Zwar hatte es eine Reihe von Umfragen gegeben, die den sogenannten "perdonazo", also die Mega-Vergebung durch Nationaltrainer Jorge Sampaoli, guthießen. Aber das Nationalstadion war mit Menschen aus der gehobenen Mittelschicht gefüllt. Die meisten Karten waren im Paket an Banken und Unternehmen verkauft worden. Die Firmen reichten die Tickets an verdiente Mitarbeiter gratis weiter; andere mussten sie bezahlen. In jedem Fall waren im Stadion White-Collar-Täter in der Überzahl, und diese zählen noch am ehesten zu den Menschen in Chile, die nicht fassen können, dass Vidals Crash weitgehend folgenlos blieb: Ihm wurde bislang nur der Führerschein entzogen, und er muss sich regelmäßig melden, im chilenischen Konsulat in Mailand.

Es gab im Stadion auch - sehr vereinzelt - Transparente, in denen Vidal für seine Rücksichtslosigkeit im Straßenverkehr gerügt wurde. Aber egal, ob beim Aufwärmen, seinem 45 Minuten-Auftritt oder seiner Rückkehr ins Stadioninnere, nachdem er sich zur Halbzeit frisch gemacht hatte - spätestens wenn sein Konterfei auf der Stadionleinwand auftauchte, wurde er vom ganz überwiegenden Teil der Besucher umjubelt.

Alexis Sánchez, ein Freund Vidals und Stürmer beim FC Arsenal, hatte kurz vor der Partie eine derart solidarische Reaktion des Publikums prognostiziert: "Chile eint sich, wenn Dinge passieren. Erdbeben zum Beispiel. 'Celia' (so wird Vidal genannt/d. Red.) hatte ein Problem, und ich hoffe, dass die Leute ihn unterstützen." Die Mannschaft stehe eh zu ihm: "Bis in den Tod", sagte Sánchez, der übrigens sein erstes Turniertor (37. Minute) erzielte. Daneben trafen Gary Medel (79.), der Bolivianer Ronald Raldes per Eigentor (86.) sowie der überragende Doppeltorschütze Charles Aránguiz (3./66.).

Aránguiz soll in Leverkusen in Vidals Fußstapfen treten

Der Mittelfeldspieler ist zurzeit noch bei Internacional Porto Alegre in Brasilien aktiv, wurde zuletzt aber vom deutschen Fachmagazin Kicker bereits mit Bayer Leverkusen im Verbindung gebracht - als Nachfolger für den nach Dortmund abgewanderten Gonzalo Castro. Trainer Sampaoli war voll des Lobes: "Er ist ein 'todocampista', ein Ganzfeldspieler, der torgefährlich ist und absichern kann. Er ist einer der besten Spieler des Turniers - und ganz bestimmt berufen, sich in einem so wettbewerbsstarken Fußball zu beweisen wie dem europäischen." Allerdings soll auch Manchester City an Aránguiz dran sein, dort ist der Chilene Manuel Pellegrini Cheftrainer.

In Leverkusen würde Aránguiz gewissermaßen in die Fußstapfen Vidals treten, der chilenische Vollgas-Fußballer war dort ja vor ein paar Jahren aktiv und erfolgreich. Vidal übrigens erlebte einen vergleichsweise geruhsamen Abend. Schon zur Pause hatte er angesichts der 2:0-Führung sowie der bolivianischen Harmlosigkeit in der Kabine bleiben dürfen, ebenso Alexis Sánchez. Gonzalo Jara von Mainz 05, der bisher als Abwehrchef zu den solidesten Stützen der Chilenen zählt, wurde in der zweiten Halbzeit zwecks Schonung ebenfalls in die Kabine beordert. Was eigentlich alles über die sportliche Dimension des üblicherweise giftigen Nachbarschaftsduells sagt. Chiles Sieg war so schnell auf den Weg gebracht, dass die Zeitung La Cuarta, noch ganz auf der Vidal-Spur, befand, die Partie sei "wie eine Spritztour im Ferrari" gewesen.

Es wäre andererseits auch ein Wunder gewesen, wenn sich so etwas wie ein geharnischter Wettstreit entwickelt hätte. Der Grund: Die letzten Gruppenspiele werden bei der Copa América, anders als bei Welt- und Europameisterschaften üblich, nicht zeitgleich ausgetragen. Sondern zeitversetzt. Nach dem 2:1-Sieg Ecuadors gegen Mexiko wussten daher Chilenen und Bolivianer noch vor Anpfiff, dass sie unabhängig von ihrem Resultat fürs Viertelfinale qualifiziert waren.

Die Chilenen treten am Mittwoch in Santiago an, gegen den Dritten aus der Gruppe B (Argentinien, Uruguay oder Paraguay) oder der Gruppe C (Brasilien, Kolumbien, Venezuela oder Peru). Chiles Nationalcoach Sampaoli hat aus Vidals Totalschaden-Unfall die Lehren gezogen: Der bislang übliche freie Tag nach Siegen fiel diesmal flach.

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SZ vom 21.06.2015
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