Süddeutsche Zeitung

Chapecoense-Spieler Alan Ruschel:Sieg des Lebens

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Von Boris Herrmann

Wenn von großen Comebacks die Rede ist, dann denkt der Boxsportfreund an Muhammad Ali, der Musikkenner, je nach Neigung, an Take That oder Guns N' Roses und so mancher Christ vermutlich an Jesus Christus. Ab sofort darf man auch an den brasilianischen Fußballer Alan Ruschel, 27, denken.

Am 28. November 2016 sitzt Ruschel im Flugzeug, das beim Anflug auf die kolumbianische Stadt Medellín mit 230 Kilometern pro Stunde gegen einen Berg prallt. Es bricht in der Mitte entzwei, rutscht den Hang hinab und fräst eine Schneise, so breit wie eine Skipiste, in den Wald. 71 Menschen sterben. An Bord ist fast der gesamte Profikader des brasilianischen Erstligisten Chapecoense, dazu der Trainerstab, die wichtigsten Funktionäre und Sponsoren sowie viele mitgereiste Berichterstatter. Ein Fußballverein ist nahezu ausgelöscht. Nur drei Spieler überleben, darunter der Verteidiger Ruschel.

252 Tage nach dem Absturz

Die unfassbare Absturzursache erklärt zugleich das Wunder seiner Rettung. Das Flugzeug ist beim Aufschlag nicht explodiert, weil kein Tropfen Treibstoff mehr im Tank war. Ruschel wird aus seinem Sitz geschleudert, von Bäumen abgebremst, dann liegt er stundenlang zwischen Trümmern und Leichen in der kalten Nacht, bevor er gefunden wird. Nun trat er zu einem "historischen Spiel" an, wie er sagte. Und das ist nicht zu dick aufgetragen.

Am Montagabend spielte das neu formierte Team von Chapecoense beim traditionellen "Trofeo Joan Gamper" im Camp Nou, gegen den FC Barcelona. Ruschel lief erstmals wieder auf. 252 Tage nach dem Absturz.

Ruschel, Trikotnummer 28, ist der Kapitän. Den Anstoß im Camp Nou führen die beiden anderen überlebenden Spieler aus: Torwart Jakson Follmann und Abwehrspieler Neto. Follmann musste der rechte Unterschenkel amputiert werden, er geht mit einer Prothese auf den Rasen. Neto will 2018 wieder Fußball spielen. Nach 35 Minuten kann Alan Ruschel nicht mehr, er wird ausgewechselt. Die Zuschauer erheben sich, alle Spieler klatschen. Ruschel sinkt auf den Rasen und streckt die Zeigefinger in Richtung Himmel.

Als Ruschel im Dezember auf einer Intensivstation wieder zu sich kam, wollten ihm die Ärzte keine Hoffnung auf solch eine Rückkehr machen. Das Becken, das Schienbein und der zehnte Brustwirbel sind gebrochen. Von den seelischen Wunden gar nicht zu reden. Seine Verlobte Marina Storchi erzählt, er habe im Krankenhaus einen ganzen Tag lang die Decke angestarrt und dann gefragt: "Haben wir wenigstens gewonnen?"

Fast schon gespenstische Heilung

Alan Ruschel muss zunächst einmal begreifen, dass fast alle seine Mitspieler tot sind. Dann lernt er wieder sitzen, stehen und gehen. Im Februar quält er sich bereits im Kraftraum, im Mai steigt er ins Mannschafttraining ein. Seine fast schon gespenstische Heilung verläuft parallel zur Wiedergeburt seines Vereins.

Bei Chapecoense wollen sie so schnell wie möglich wieder als Fußballteam wahrgenommen werden und nicht als Trauergemeinde. Sie haben gemäß den "üblichen Branchengesetzen" nach fünf sieglosen Ligaspielen auch schon ihren Trainer gefeuert, der im Dezember für seinen verstorbenen Vorgänger eingesprungen war. Auch Ruschel möchte nicht wie ein Überlebender behandelt werden, sondern wie ein normaler Profi. "Bitte kein Mitleid", hatte er vor dem Einsatz in Barcelona betont.

Dass dieses Spiel zustande kam, hing auch mit dem teuersten Brasilianer, Neymar, zusammen, der in der weltweiten Solidaritätswelle mit dem Absturzklub eine maßgebliche Rolle spielt. Neymar war am Montag nicht mehr da, als Chape ins Camp Nou kam. Er war nicht mehr der Gegner von Linksverteidiger Ruschel, der musste nun gegen den Flügelstürmer Lionel Messi spielen. Man kann ein neues Leben mit leichteren Aufgaben beginnen.

Barcelona gewinnt mit 5:0, doch das Ergebnis ist an diesem Abend unwichtig. Messi schenkt Ruschel später sein Trikot. Die brasilianische Zeitung O Globo schreibt: "Sieg des Lebens".

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