Süddeutsche Zeitung

Champions League:Tuchels Meisterstück

Lesezeit: 5 min

In nur wenigen Monaten hat Thomas Tuchel aus dem FC Chelsea einen Champions-League-Sieger gemacht. Im Finale wählt er den perfekten Matchplan - und freut sich nach dem Spiel mit seiner ganzen Familie.

Von Javier Cáceres, Porto

Der Himmel war wolkenlos und dunkel, als der Tag des Ruhms erstarb, und auf der monumentalen Praça da Liberdade johlten Dutzende, in dunkelblaue Hemden drapierte Fans einen spanischen Barbarismus. "Campeones, campeones", sangen sie, vor dem gigantischen, aufblasbaren Pott mit Henkeln, dem Champions-League-Pokal. Auch sie waren Protagonisten des Tages gewesen: 16.000 Menschen, immerhin, hatten Einlass in das Estadio do Dragão erhalten. Und was für ein Unterschied das allein zum letzten Jahr war, als der FC Bayern gar nicht so weit von hier, in Portugals Hauptstadt Lissabon, vor leeren Rängen feiern musste. Nun, da Chelsea in Porto den zweiten Champions-League-Titel seiner Geschichte nach 2012 holte, fehlte im Stadion nicht einmal dies: Madness.

Am Samstag hatte das Stadion des Drachen von Porto seinem Namen letztlich 97 faszinierende Minuten lang jede Ehre erwiesen, ehe "One step beyond" durch die Lautsprecher gejagt wurde. Der Klassiker unter den Ska-Hymnen wird stets an der Stamford Bridge gespielt, der Heimstatt des FC Chelsea. Die Fans tanzten Pogo und grölten, und vor ihnen tat das Team es ihnen nach. Wer dort im Einzelnen auf und ab hüpfte, war nicht mehr auszumachen, das Szenario hatte sich längst in ein Wimmelbild verwandelt. Und vielleicht, ganz vielleicht, war das der Moment, da Tuchel seinem Boss zum ersten Mal seit seinem Amtsantritt im Januar die Hand schüttelte: dem sagenumwobenen russischen Oligarchen Roman Abramowich, dem Eigner des Londoner Traditionsklubs.

Es sei "der beste Moment" für eine erste Begegnung gewesen, sollte Tuchel später sagen. Als der Gedanke längst ausgesprochen in der Luft hing, lachte er auf. "Vielleicht war es auch der schlechteste (Moment), denn von nun an kann's nur bergab gehen." Fürwahr: Viel höher geht es nicht. "Der Olymp ist blue", schlagzeilte am Sonntag die portugiesische Sportzeitung O Jogo, bezogen auf Chelsea und auf Tuchel: Er, der im vergangenen Jahr gegen den FC Bayern München mit Paris Saint-Germain verloren hatte und dann im Dezember per SMS gefeuert wurde, in der Nacht zum Heiligen Abend, führte sein neues Team in einem kaum 130-tägigen Ritt die Mannschaft unter die Top vier der Premier League, erreichte das FA-Cupfinale und holte nun, am Ufer des Douro, den Königsklassenpokal. Durch ein einsames Tor des deutschen EM-Fahrers Kai Havertz (43.) - und durch Tuchels perfekt strukturierten Matchplan. Als Schiedsrichter Mateu Lahoz abpfiff, drehte sich Tuchel, außer sich vor Freude, zur Bank hin, ballte die Fäuste und schrie drachengleich. Es war eine einzige Explosion der Euphorie. Dann flogen all seine Assistenten auf ihn, und wanderte seine Familie auf den Platz - seine Ehefrau, seine beiden Kinder, die in den vergangenen Monaten so oft und so lange auf ihn verzichten hatten müssen.

"Ich laufe wie durch einen Film", sagte Tuchel bei Sky, und gestand, dass er sich den Tränen nahe fühle. "Meine Familie ist hier, das Schönste, was passieren konnte. Meine Eltern, die mich auf jeden Fußballplatz gefahren haben, meine Frau, die in der Landesliga Süd schon dabei war und sich manchmal gefragt hat, mit wem sie da zusammen ist. Meine Großmutter, die jetzt mit über 90 zu Hause zuguckt... Ich weiß, wie sehr die sich alle freuen. Für die ist das jetzt. Und für die Fans! Das ganze Spiel ist für die Fans. Das Spiel ist ein komplett anderes Spiel, wenn Fans da sind."

Es ist, so viel ist sicher, nicht nur anders, sondern auch besser. Seit Donnerstag waren englische Fans in die Stadt eingefallen und hatten, je größer ihre Zahl wurde, den bisherigen, pandemiebedingt eingebrochenen Jahresbierkonsum in der Stadt wieder in die Höhe schnellen lassen. Masken? Soziale Distanz? C'mon! Sollte Porto nicht zum neuen Superspreader-Event geworden sein: Danke, Astra. Gefühlt waren mehr City-Fans angereist, viele ohne Tickets, doch wer weiß das so genau. Im Gefühl eines sicheren Sieges, der dann doch nicht kam. Weil City-Trainer Pep Guardiola listiger sein wollte als der Hunger, wie man in seiner katalanischen Heimat sagt, "mes llest que la fam". Am Ende stand der dritte Tuchel-Sieg im dritten Duell des Jahres mit Pep. "Wir sind der Stein im Schuh von ManCity", sagte Tuchel, der seit Januar gegen alle großen Trainer gewonnen hat, die ihm vor die Flinte kamen, egal ob sie nun José Mourinho, Carlo Ancelotti oder Zinédine Zidane hießen.

Es kam ihm im Finale nicht ungelegen, dass Guardiola eine Trainerattacke erlitt und auf seine defensiven Mittelfeldspieler verzichtete - obwohl ihn einer davon, Fernandinho, am Vorabend in der Pressekonferenz gleich drei Mal beschworen hatte, nichts zu ändern. Das, sagte der Brasilianer, sei der Schlüssel: nix ändern! Es stand zunächst Ilkay Gündogan auf der "Sechs", der Ukrainer Olkesandr Zinchenko, eigentlich Linksverteidiger, sollte ihm assistieren. Tempo, Technik, schnelle Ballstaffetten, das war Peps Plan - der fehlschlug. Obwohl Chelsea sogar ertragen musste, dass sich der erfahrene Abwehrchef Thiago Silva nach gut einer halben Stunde verletzte und ausgetauscht werden musste.

Später, als City in der zweiten Hälfte immer verzweifelter zu Angriffen blies, bewies Chelsea, unter Tuchel gelernt zu haben, wie man leidet. Ohne je die defensive Ordnung zu verlieren, die eine der kardinalen Neuerungen Tuchels war, als er im Januar den Job von Klublegende Frank Lampard übernahm, und die letztlich den Grund bot für den Sieg. Denn weil City kaum zu Chancen und noch weniger zu Treffern kam, war das Tor des sündhaft teuren Kai Havertz, dem immer wieder um die Ohren gehauen worden war, dass er zu Saisonbeginn für fast hundert Millionen Euro von Leverkusen nach London gewechselt war, genug.

Schon in den Tagen zuvor hatte Tuchel das diffuse Gefühl beschlichen, dass man es schaffen würde. Dass das nur hinter vorgehaltener Hand geäußerte Bauchgefühl Realität wurde, hatte nicht nur, aber auch mit Guardiolas Formation zu tun. Chelseas Torwart Édouard Mendy hatte den Ball auf die linke Seite gespielt, und als er bei Mason Mount landete, hatte sich vor dem Strafraum Citys ein fatales Loch aufgetan, das Havertz erspähte, füllte, nutzte. Die Innenverteidiger und Gündogan waren irgendwo in der Schlacht verloren gegangen, und Hilfs-Sechser Zivchenko kam zu spät, als Havertz die Szene an sich riss.

Er spitzelte den Ball am herausstürzenden Torwart Éderson vorbei, blieb fast an ihm hängen, und hatte dann doch freie Bahn, um den Ball mit der ihm innewohnenden Kälte ins Tor zu schieben (43.) - zu seinem ersten Champions-League-Tor überhaupt. Die größte Chance danach hatte der für Timo Werner eingewechselte Christian Pulisic in der zweiten Halbzeit. Doch nach einem eleganten, frappierenden Solo von Havertz lupfte er den Ball an Éderson und auch knapp am Tor vorbei. Einerlei: Auch so und dank einer bemerkenswerten wie herausragenden Leistung des Franzosen N'Golo Kanté auf der Sechserposition (die Guardiola ironischerweise vernachlässigte) blieb es dabei, dass Chelsea als erste Mannschaft aus London einen zweiten Champions-League-Titel ihr eigen nennen .

Derartige Erfolge werden üblicherweise prämiert. Schon vor dem Triumph von Porto hatte es Gerüchte um eine bevorstehende Vertragsverlängerung in London gegeben, sie darf nun als Gewissheit angesehen werden. "Ich bin nicht hundertprozentig sicher, aber vielleicht habe ich durch diesen Sieg schon einen neuen Vertrag. Könnte sein", sagte Tuchel im Stile eines an materiellen Dingen gänzlich uninteressierten Nerds. "Mein Manager hat da was gesagt, aber ich weiß es nicht, das müssen wir erst checken", lachte Tuchel in der Pressekonferenz. Nach SZ-Informationen hat sich der Vertrag tatsächlich verlängert, um zwei Jahre, zu deutlich erhöhten Bezügen. Und nun? Natürlich sei die Zeit gekommen, zu feiern, die Dinge sacken zu lassen.

Die Party war gelöst und fröhlich, aber familiär, nicht exzessiv, berichten Teilnehmer. Am Sonntagvormittag, als die Sonne durch den grauen Himmel brach, setzte sich Tuchel mit Abramowitsch zusammen. Zukunftspläne. Denn: "Es geht um den nächsten Erfolg, ehrlich gesagt", betonte Tuchel. Er habe es auf anderer Ebene erlebt, vor vier Jahren bei seinem ersten Titel im Profifußball: "Als wir mit Dortmund den Pokal gewonnen haben, bin ich danach nicht mit weniger Hunger, Verlangen oder Ambition zum ersten Training gekommen." Man kann das eine Kampfansage nennen, Tuchels Chelsea- Mannschaft strotzt vor Klasse und Jugend.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5307998
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.