Süddeutsche Zeitung

Real Madrid:Der unvergängliche Uradel der Champions League

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Im Grunde ist das Team von Real Madrid ein Modell von gestern. Und doch liefert es zuverlässig unvergessliche Spiele - dafür ist dem Klub zu danken.

Kommentar von Philipp Selldorf

Auf die Frage, wer zuerst da war, Henne oder Ei, gibt es bisher keine Antwort, und genauso verhält es sich bei einer anderen existenziellen Frage, die gerade wieder die Welt bewegt: War die Champions League zuerst da oder waren Modric, Kroos, Benzema & Co. schon vorher zur Stelle? Haben clevere Geschäftsleute in der Schweiz die Champions League geschaffen, um den guten, alten Europacup in ein modernes, globales Erfolgsmodell zu verwandeln? Oder haben Modric & Co. die Champions League erfunden, um amüsante Abende wie jenen in Manchester zu erleben?

Mancher glückliche Zuschauer mag beim Spiel zwischen Manchester City und Real Madrid gemeint haben, so etwas noch nicht gesehen zu haben. Die Besonderheit bestand aber nicht in den vielen Toren, sondern darin, dass das Spiel die üblichen Grenzen verlassen durfte. Gewöhnlich gilt im Halbfinale das "Hinten-gut-stehen"-Gebot: Mut zum Risiko wird ansonsten schnell als Hasardieren interpretiert. Weil es ja, wie es immer heißt und überall für wahr gehalten wird, "um so viel geht". Was hält man bei Real Madrid von solchen Zwängen? Wenig. Oder auch: nichts.

José Mourinho hätte vermutlich höhnisch gelacht und "Kirmes-Veranstaltung" in sich hineingemurmelt

Gern wäre man dabei gewesen, wie José Mourinho den Abend verfolgt hat. Oft genug hat der zurzeit in Rom lehrende Trainer in den K.-o.-Runden Spiele organisiert, die sich durch die Abwesenheit sowohl von Toren als auch von Torszenen auszeichneten. Ob er nun höhnisch gelacht und "Kirmes-Veranstaltung" in sich hineingemurmelt hat, als in Manchester die beiden Teams so abenteuerlich ausschweiften?

Karim Benzema jedenfalls wurde von der Kamera dabei erwischt, wie er ausgesprochen fröhlich lachte. Nicht nur nach seinen eigenen Treffern, sondern auch nach Citys 4:2 durch Bernardo Silva. Entweder gefiel ihm das Tor oder er hatte Spaß an der Dramaturgie. Vermutlich beides. Benzema nimmt sich die Freiheit, das Spiel und den Moment zu genießen, und der Effekt ist, dass er seine Karriere im Alter immer noch mehr strahlen und glänzen lässt.

Solange man nicht vom sogenannten Madridismo befallen ist, einem spanischen Verwandten des Bayern-Gens, fallen einem schon ein paar Gründe ein, Real Madrid nicht für besonders liebenswert zu halten. Dennoch ist dem Klub und seinem zwiespältigen Präsidenten Florentino Pérez dafür zu danken, dass er immer noch diese Mannschaft unterhält, die nicht aufhört, solche unvergesslichen Spiele hervorzubringen. Mit all seinen alten Stars sieht Real Madrid wie der unvergängliche Uradel der Champions League aus, auch wenn man gerade Sergio Ramos und Pepe vermisst.

Im Grunde ist es unmöglich, dass eine Elf mit Veteranen wie Modric, 36, Kroos, 32, und Benzema, 34, nach wie vor mit den hochwertig konstruierten englischen Teams mithalten kann. Es ist auch eine freche Extravaganz der Real-Manager, keinen zweiten Abräumer anzuschaffen, der bei Bedarf - wie am Dienstag - den alten Casemiro ersetzen könnte. Über die Innenverteidigung könnte man ebenfalls diskutieren. Und dass Carlo Ancelottis Coaching vor allem darin besteht, auf Coaching zu verzichten, das ist keine These zum Zweck von übler Nachrede, sondern die Erklärung dafür, warum er gerade der ideale Mann in Madrids Trainerkabine ist.

Nach üblicher Norm ist dieses Team ein Modell von gestern. Doch sobald die älteren Herren auf dem Rasen stehen, Ancelotti den Kaugummi aus dem Trenchcoat holt und die Champions-League-Hymne erklingt, ist dieses Real Madrid, wie im Lied von Reinhard Mey, über den Wolken, wo die Freiheit grenzenlos ist.

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