Süddeutsche Zeitung

BVB:Dortmund hat den Finger in der eigenen Wunde

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Von Freddie Röckenhaus, Berlin

Verliererpartys kann man mal machen, das stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl. Aber vier Endspiele nacheinander als Verlierer beenden, jeden Frühsommer eines? Das braucht schon Nehmerqualitäten. Als Borussia Dortmunds müde Spieler um zwei Uhr nachts in der Bananenhalle des alten Güterbahnhofs am Gleisdreieck Berlin ankamen, war von Partylaune jedenfalls wenig zu spüren. Auch wenn Dortmunder es seit jeher gewöhnt sind, den manchmal schlechten Geschmack des Schicksals mit Bier herunterzuspülen: Die Auswahl der Elfmeterschützen und ein rotwürdiges Foul des Gegners machten diese Nacht dann doch besonders unangenehm.

Marcel Schmelzer, der als Favorit für das vakante Kapitänsamt beim BVB gilt, hatte kämpferisch gesagt, dass die Niedergeschlagenheit sich in der Kabine in Grenzen gehalten habe. "Nein, das Hauptthema war die 35. Minute." Da hatte Franck Ribéry seinem Gegenspieler Gonzalo Castro mit der Hand ins Gesicht gelangt und dem Dortmunder einen Finger ins Auge gedrückt, als habe er eine Nahkampfschulung bei der Fremdenlegion hinter sich.

Eine Szene, die man aus Actionfilmen kennt, die nach den Fußballregeln aber als "Tätlichkeit" bezeichnet wird. "Dass er keine rote Karte bekommt, obwohl der vierte Schiedsrichter 20 Zentimeter neben dem Tatort steht, ist spielentscheidend", fasste Schmelzer zusammen: "Die Bayern hätten uns mit zehn Mann längst nicht mehr so attackieren können."

Es entspricht nicht dem Dortmunder Selbstverständnis, eine Null zu halten

Das stimmte, aber es legte den Finger sozusagen in die eigene Wunde. Trainer Thomas Tuchel beklagte, dass sich seine Auswahl längst nicht die Ballbesitz-Anteile gegen die Bayern eroberte, die sie vor gut zwei Monaten beim 0:0 der beiden Teams in der Bundesliga hatte. So blieben die Analysen des Spielverlaufs jenseits der Ribéry-Rot-Frage seltsam ambivalent. Dortmund hatte binnen weniger Wochen zweimal vermieden, gegen die sonst so wuchtige Bayern-Offensive ein Tor zu kassieren. Das schaffte in Europa sonst keiner.

Die Rezeptur, die Tuchel dafür hatte, enthielt allerdings die Zutat von jeweils drei Innenverteidigern (Hummels, Sokratis, Bender) in einer für Dortmunder Verhältnisse ungewöhnlichen Fünfer-Abwehrkette. Zugleich kritisierte der Trainer, dass seine Spieler gegen die Bayern nicht mutig genug waren, nicht hoch genug verteidigt und kaum Balleroberungen schon in des Gegners Hälfte erzwungen hätten.

Nicht nur in der Bananenhalle wurde diskutiert, ob es Borussia Dortmund im ewigen Wettstreit mit den auf Dominanz gepolten Bayern nicht an Chuzpe für den offenen Schlagabtausch fehle. 210 Minuten ohne Gegentor - schön und gut. Aber wenn man das mit der Preisgabe eigener überragender Offensiv- und Gestaltungskraft erkaufe, verkaufe man sich selbst vielleicht zu billig. Die Meinungen blieben gespalten. Eine Null zu halten, entspricht an sich weder dem Selbstverständnis von Dortmund noch dem von Tuchel.

Der Trainer hatte nach dem Spiel offensiv Selbstkritik geübt. Er sei traurig, meinte er, dass er es durchgehen ließ, dass die nicht gerade für ihre Schusstechnik berühmten Sokratis und Sven Bender zum Elfmeterschießen antraten. "Ich ärgere mich, dass ich nicht andere in die Verantwortung genommen habe. Wir haben so viele Tore in dieser Saison geschossen - da wäre bei Elfmetern keiner zuerst auf diese beiden gekommen." Beide trafen nicht - so gewann Bayern das Elfmeterschießen 4:3.

Die Selbstkritik war zugleich aber auch vergiftet. Ausgerechnet Tuchels Lieblingsspieler Henrikh Mkhitaryan gehörte ja zu denen, die gekniffen hatten. Julian Weigl schoss nicht, auch nicht Routinier Lukasz Piszczek. "Ich habe nicht klar genug gemacht, dass es nicht schlimm ist, einen Elfmeter zu verschießen", meinte Tuchel. Er ließ unausgesprochen, dass es schlimmer sei, sich der Sache gar nicht erst zu stellen. Allerdings war es auch für Tuchel das erste große Finale seiner Trainer-Laufbahn.

Tuchel weint Hummels' Stil kaum eine Träne nach

Und das letzte Spiel mit Mats Hummels, der von Tuchel ein paar kritische Worte zum Abschied bekam. Im letzten Spiel für seinen alten und gegen seinen neuen Arbeitgeber hatte er sich eine Sprunggelenks-Blessur geholt, in der 78. Minute kam für ihn Matthias Ginter. Was sein Trainer davon hielt, verdeutlichte er durch aufreizende Wortkargheit. Warum Hummels ausgewechselt wurde? "Weil er darum gebeten hat." Ob er gut gespielt habe? "Er kann's besser." Kein warmes Wort mehr für einen Kapitän, dessen Transfer 35 Millionen Euro auf die BVB-Konten bringt. Hummels widersprach dem aber entschieden. "Ich habe nichts angedeutet. Wenn ich raus will, mache ich ein klares Zeichen", sagte er. "Ich denke, der Trainer hat gesehen, dass es nicht mehr ging."

Tuchel weint dem speziellen Stil von Hummels, das wissen Eingeweihte schon länger, kaum eine Träne nach. Bisher hat er weitgehend mit einer BVB-Mannschaft gearbeitet, die vom Vorgänger Jürgen Klopp geprägt und von den Managern Michael Zorc und Hans-Joachim Watzke zusammengestellt ist. In die Gestaltung der Tuchel-Ära würde der Trainer, wie man gut heraushört, nun gerne mehr eingreifen. Auch personell. Bisher werden nur zwei Planstellen frei und sind neu besetzbar, die von Hummels und voraussichtlich die von Ilkay Gündogan, den Pep Guardiola und Manchester City trotz der schweren Knieverletzung offenbar holen wollen. (Laut kicker soll die Ablösesumme bei 25 Millionen Euro liegen.)

Tuchel, so heißt es, wünscht sich noch mehr Umbau. Das dürfte auch die Mentalitätsfrage betreffen, die sich bei der verzweifelten Freiwilligensuche für das Elfmeterschießen dargestellt hat. Allerdings stößt das Mitspracherecht von Trainern in selbstbewussten Klubs wie den Bayern oder der Borussia zwangsläufig an Grenzen. Trainer kommen und gehen - siehe Guardiola. Man darf deshalb zum Beispiel gespannt sein, wie sich der BVB in nächster Zeit zum verlorenen Sohn Mario Götze positionieren wird.

Mit sich selbst wird Tuchel nächste Saison allerdings auch in eine neue Phase eintreten können. Sein erklärtes Alter Ego, Pep Guardiola, verschwindet von der unmittelbaren Bildfläche. In künftigen Duellen mit den Bayern fällt dieses Moment von Beklommenheit weg, das ein Musterschüler bei seinem Guru womöglich kaum vermeiden kann. Im nächsten Finale werde schon deshalb alles besser, hieß es nachts in der Bananenhalle. Gebucht haben die Dortmunder in Berlin noch keinen Saal für die nächste schwarzgelbe Nacht. Obwohl sie dort Stammgäste sind.

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SZ vom 23.05.2016
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