Süddeutsche Zeitung

Wurfgeschosse:Nun hat es jemanden getroffen

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Nach dem Becherwurf von Bochum entscheidet der DFB-Kontrollausschuss über Wertung und Strafen. Der VfL rechnet mit Konsequenzen und sorgt sich um sein Image, der getroffene Assistent Gittelmann sieht ein gesellschaftliches Problem.

Von Ulrich Hartmann, Bochum

Mit der Diagnose einer Schädelprellung und eines Schleudertraumas ist der Schiedsrichter-Assistent Christian Gittelmann nach ambulanter Behandlung wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Es ist aber wohl trotzdem nicht so, dass er am kommenden Wochenende bereits wieder an der Linie stehen könnte und wollte. Länger als die körperlichen Folgen des Vorfalls dürfte ihn die Wirkung der Bilder beschäftigen, die am Wochenende in die Fußballwelt hinausgingen: der Linienrichter am Boden kniend, von einem Bierbecher am Hinterkopf getroffen. Das Bundesligaspiel zwischen dem VfL Bochum und Borussia Mönchengladbach wurde deshalb in der 69. Minute von Schiedsrichter Benjamin Cortus vorzeitig beendet, beim Stand von 2:0 für Gladbach. Obligatorischer Abbruchs-Grund: Tätlicher Angriff gegen einen Spieloffiziellen.

Der Pfälzer Gittelmann, 39, im Hauptberuf Betriebswirt, macht sich jetzt Sorgen um Image und Sozialauftrag des Fußballs: "Unser gesamter und von uns allen geliebter Fußballsport leidet darunter", sagte er in einem Interview auf der Internetseite des Deutschen Fußball-Bunds (DFB). Ob das so sein wird, wird man sehen. Der Abbruch am Freitagabend jedenfalls war erforderlich und hat eine notwendige Debatte ausgelöst, doch schon in Kürze dürfte sich der Fußball von diesem Eklat erholen. Ob sich etwas ändern wird? Fußball bleibt eine emotionale Angelegenheit. Und in jedem Stadion finden sich ein paar dumme und ein paar betrunkene Fans - manche vereinen sogar beide Eigenschaften.

Zwar waren sich in der Folge die meisten Akteure einig, dass pauschale Kritik an Fans nicht zielführend sei und Fangnetze oder andere Barrieren zwischen Feld und Tribüne nicht zur Debatte stehen sollten. Auch Gittelmann sagte, es sei ein Einzelfall gewesen. Zugleich merkte er aber an, dass es hinsichtlich fliegender Gegenstände in den Stadien insgesamt zu viele Einzelfälle gebe. Dieses Problem ist auch an der Castroper Straße in Bochum schon länger virulent. Auch während dieses Spiels hatte der Stadionsprecher die eigenen Fans immer wieder ermahnt, "bitte keine Gegenstände aufs Spielfeld zu werfen". Es half nichts.

Die Sorgen von Gittelmann gehen über den Vorfall hinaus. Seit dem vergangenen Sommer ist er auch Referent der "DFB-Stiftung Egidius Braun", die sich darum kümmert, dass der Fußball einer gesellschaftlichen Verantwortung nachkommt. Braun ist in der Vorwoche verstorben, ausgerechnet vor diesem Spiel in Bochum gedachte man seiner mit einer Schweigeminute. Kein Wunder, dass Gittelmann hinterher umso aufgewühlter war. Es muss sich für ihn nach dem Becherwurf so angefühlt haben, als würden die Werte der Stiftung und ihres Namensgebers mit Füßen getreten: "Gerade in Zeiten, in denen Zusammenhalt und Rücksicht in unserer Gesellschaft endlich einen führenden Platz haben sollten, braucht niemand solche Bilder", wurde der Unparteiische zitiert. Er erwähnte auch explizit Gewalttaten gegen Schiedsrichter auf deutschen Amateurplätzen, die durch eine "Null-Toleranz-Politik" und harte Strafen möglicherweise verhindert werden könnten.

Spieler und Funktionäre des VfL Bochum reagierten weniger mit Blick aufs Gesellschaftliche, dafür klar und unmittelbar. Torwart Manuel Riemann rannte nach dem Vorfall sofort aus seinem Tor vor den Fanblock und beschimpfte in Unkenntnis des Täters eine Zuschauergruppe. "Das sind Idioten", behauptete auch der Vereinsvorsitzende Hans-Peter Villis, "ein Einzeltäter hat den Ruf des VfL Bochum beschädigt." Trainer Thomas Reis, der wegen einer Corona-Infektion nicht im Stadion war, sagte über den Täter: "Keine Ahnung, was in so einem Kopf vor sich geht." Sebastian Schindzielorz, Geschäftsführer des VfL, bat unverzüglich bei Gittelmann im Namen des Vereins um Entschuldigung.

Gladbach wird wohl zum 2:0-Sieger erklärt - dem VfL droht ein Geisterspiel

Nun entscheidet der Kontrollausschuss des DFB einerseits über die Spielwertung, andererseits über ein Strafverfahren gegen jenen Verein, dessen Anhänger für den Becherwurf verantwortlich waren. Weil im Block A eher Bochumer Zuschauer sitzen, hat den Becher mit hoher Wahrscheinlichkeit ein VfL-Sympathisant geschmissen. Daher wird Gladbach wohl ein 2:0-Sieg zuerkannt und damit der Spielstand beim Abbruch bestätigt, was der Borussia auf dem Weg der sportlichen Genesung wertvolle Punkte einbrächte. Fraglich ist, welche Strafen der VfL zusätzlich erhält. Denkbar ist ein Heimspiel ohne Zuschauer - das wäre eine Sanktion, die den Klub angesichts der soeben erfolgten Wiederzulassung voller Stadien zwar Geld kostet, die durch Corona ihren Schrecken aber ein bisschen verloren hat.

Das war vor elf Jahren, beim bisher letzten Abbruch in der Bundesliga, noch ganz anders. Am 1. April 2011 wurde das Spiel zwischen dem FC St. Pauli und Schalke 04 abgebrochen, weil der Linienrichter Thorsten Schiffner von einem Becher aus dem Publikum getroffen wurde. St. Pauli wurde vom DFB-Sportgericht zum Verlierer erklärt - mit der Begründung, der Gastgeber sei für seine Zuschauer verantwortlich und habe den Abbruch zu verantworten. St. Pauli sollte ein Geisterspiel bekommen, legte aber Einspruch ein und durfte dann sein erstes Heimspiel der darauffolgenden Saison zwar mit Zuschauern, aber nur mindestens 50 Kilometer von Hamburg entfernt austragen. Man entschied sich für Lübeck.

Der VfL Bochum sucht jetzt fieberhaft nach dem Täter. Ihn zu finden, würde den Verein entlasten und das Strafmaß lindern, so sehen es die Regularien vor. "Die Auswertung der Bilder läuft", schrieb der Klub, "im Falle einer Identifizierung wird der VfL Schritte einleiten, zum Beispiel Stadionverbot, Vereinsausschluss oder Einzug der Dauerkarte. Er behält sich außerdem Schadenersatzansprüche vor." Man habe zudem einen Aufruf gestartet, damit sich Zeugen melden. Einige hätten das auch schon getan, wie Villis beim Sender Sport1 sagte.

Im Klub gehen sie fest davon aus, dass der VfL "verbandsseitig bestraft" wird. Diese Strafe werden sie aushalten. Was aus ihrem so lange aufgebauten Image wird, dem stolzen Selbstbild vom kleinen, sympathischen und zuletzt gerade in vielen Heimspielen begeisternden VfL Bochum, das ist eine andere Frage.

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