Süddeutsche Zeitung

Reisen in Pandemie-Zeiten:"Overtourism ist durch Corona nicht vorbei - im Gegenteil"

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Plötzlich waren die Touristen weg, monatelang. Jetzt kommen sie wieder. Aber nicht überall sind sie erwünscht, sagt Tourismusforscher Harald Pechlaner.

Interview von Eva Dignös

Der Corona-Sommer gilt als Chance für den Deutschlandtourismus. Doch davon scheinen nur die ohnehin schon beliebten Regionen zu profitieren: An Nord- und Ostsee sind bei gutem Wetter die Strände überfüllt, in Oberbayern gibt es Proteste gegen den Massenansturm der Ausflügler. Warum fühlen sich manche Regionen schon wieder überrollt vom Tourismus, während andere es nicht schaffen, von der wachsenden Reiselust zu profitieren? Ein Gespräch mit Harald Pechlaner, Professor für Tourismus an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, über die Frage, was sich durch Corona am Reisen ändern könnte - und was nicht.

SZ: Herr Professor Pechlaner, warum verteilen sich die Urlauber nicht besser? Warum fahren sie nicht in den Spreewald, die Rhön, die Eifel?

Harald Pechlaner: Wir beobachten durchaus, dass sich Reiseströme verlagern, dass die Münchner zum Beispiel ins Altmühltal reisen statt nach Italien. Ob das zu einer nachhaltigen Entwicklung wird, hängt davon ab, ob es gelingt, Attraktionspunkte zu schaffen und eine solche Region für bestimmte Zielgruppen dauerhaft auf der touristischen Landkarte zu verankern.

Könnte es nicht auch daran liegen, dass so mancher Landgasthof den Eindruck vermittelt, als seien die Plastikblumen im Fenster seit den 60er Jahren nicht mehr ausgetauscht worden?

Der Tourismus wird oft zum Allheilmittel stilisiert: In einer Region läuft nichts, da muss es der Tourismus richten. Das ist so oft versucht worden und hat am Ende nicht funktioniert, weil es nicht die nötige Energie, das nötige Investment, aber auch nicht die nötigen Ideen und Visionen gab, um eine Region voranzutreiben. Es braucht Menschen, die imstande sind, andere Menschen zu begeistern, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Und man muss sich trauen, Konzepte zu hinterfragen, wenn sie nicht funktionieren. Das geschieht oft viel zu spät. Wenn es kein Angebot gibt, das attraktiv ist, das dem Zeitgeist ein Stück weit entspricht, dann wird sich auch niemand finden, der bereit ist, dorthin zu reisen. Angebot trifft Nachfrage, Nachfrage trifft Angebot. Ich bin aber auch der Meinung, dass nicht jede Region eine attraktive Tourismusdestination werden muss. Die Politik sollte nicht darauf bestehen, wenn die Menschen vor Ort das nicht wollen oder nicht können.

Denn das merken die Gäste vermutlich auch sehr schnell ...

Tourismus ist, wenn er gut gemacht ist, idealerweise auch Kultur. Professionell agierende Regionen haben ein entsprechendes Setting, da geht es um die Kultur der Gastlichkeit, um Servicekultur, um Erlebniskultur. Wobei das manchmal schon wieder in Überinszenierung umschlägt: Man baut irgendwelche Erlebniswelten, die überhaupt nicht notwendig sind, wenn es gelingt, die Nähe zur Natur herzustellen.

Oft kommt man gar nicht erst in die Verlegenheit, die Servicekultur zu testen, weil es an so banalen Dingen fehlt wie einer Online-Buchungsmöglichkeit.

Corona zeigt uns, dass auch die kleinen Anbieter jetzt in die Gänge kommen und ihr Angebot buchbar machen müssen. Daran führt kein Weg vorbei. Allerdings haben wir in den touristisch weniger entwickelten Regionen vielfach nicht nur eine klein- und mittelständische Struktur, sondern Kleinstbetriebe, die sich nicht so leichttun, schnell mal eben zu digitalisieren.

Einige jetzt schon wieder gut besuchte Orte setzen ebenfalls auf Digitalisierung - allerdings nicht, um mehr Gäste zu gewinnen, sondern um die Besucherströme in geordnete Bahnen zu lenken, beispielsweise mit einer Ampel-App für den Strand. Ist das der richtige Weg?

Wir haben schon in Overtourism-Zeiten gelernt, dass wir Besucher lenken müssen. Durch Corona ist die Digitalisierung in großen Schritten vorangebracht worden. Aber Besucherlenkung löst das Problem nur kurzfristig. Langfristig müssen wir die Herausforderung bewältigen, dass Menschen an einem Ort leben und möglicherweise mit der Entwicklung des Tourismus nicht mehr zufrieden sind. Overtourism ist durch Corona nicht vorbei - im Gegenteil. Die Krise hat die Ressentiments gegenüber dem Tourismus weltweit sogar noch verstärkt.

Inwiefern? Viele beliebte Urlaubsorte leiden doch schwer unter den Folgen und werben massiv um Gäste.

Es gab eine Zeitlang praktisch keinen Tourismus. In dieser Zeit haben ihn zwar die Touristiker wieder herbeigesehnt, nicht jedoch diejenigen, die nicht unmittelbar damit zu tun haben. Es haben Debatten begonnen nach dem Motto "Jetzt wissen wir, was Massentourismus ist, jetzt wissen wir, was unhöfliche Gäste sind, und jetzt merken wir, wie viel Raum von den Gästen okkupiert wurde". Viele in der Bevölkerung wollen nicht zu den Vor-Corona-Zeiten zurück. Wir müssen deshalb einen funktionierenden Lebensraum zur Voraussetzung von touristischer Entwicklung machen. Zuerst muss der Ort für die Menschen passen, die dort wohnen, arbeiten, einkaufen, ihre Freizeit verbringen. Wenn deren Lebensqualität stimmt, dann ist das die Grundlage für die Erlebnisqualität der Gäste und nicht umgekehrt.

Auf Mallorca ist gerade zu erleben, dass die Urlauber darauf nicht unbedingt Rücksicht nehmen.

Zahlenmäßig sind das immer noch wenige. Den Ballermann wird es weiterhin geben, auch wenn man versuchen wird, ihn einzuschränken. Aber ich glaube trotzdem, dass sich zugleich - zumindest in unseren postindustriellen Gesellschaften - ein Trend zu bewussterem Reisen entwickelt. Die Menschen werden sich die Frage stellen: Muss man wirklich dreimal im Jahr an den Gardasee? Der Umstand, dass viele Urlauber in diesem Jahr neue Regionen im eigenen Land kennengelernt haben, führt dazu, dass man diese auch künftig als Alternative bei der Reiseplanung berücksichtigt. Nachhaltigkeit wird außerdem künftig ganz viel zu tun haben mit Gesundheit und mit Sicherheit. Die Leute wollen wissen: Was tut mein Urlaubsort für meine Sicherheit? Und für meine ganz persönliche Gesundheit? Die Menschen haben in den vergangenen Monaten die Erfahrung gemacht, dass es ganz schnell auch um das eigene Leben gehen kann. Und das nehmen sie ein Stück weit auch mit auf die Reise.

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