Süddeutsche Zeitung

China:Über den Wolkenkratzern

Lesezeit: 4 min

Keine Lust mehr auf die lärmende Großstadt Hongkong? Eine Standseilbahn führt hinauf in die Natur - und Shoppen kann man dort auch.

Von Steve Przybilla

Wer zum ersten Mal nach Hongkong reist, sollte Ohrstöpsel mitnehmen. Die Autos, die Bauarbeiten, die dauerhaft ratternden Klimaanlagen: Aus jedem noch so kleinen Winkel dringt ein anderes Geräusch. Es pfeift und quietscht und zischt. Dazu grelle Werbetafeln, die zu jeder Tag- und Nachtzeit die Straßen erhellen, durch die sich sieben Millionen Menschen quetschen. Sogar die Ampeln knattern, wenn sie auf Grün umschalten. Sie klingen wie Presslufthämmer.

Die meisten Besucher kommen nach Hongkong, um etwas zu erleben. Um Geschäfte zu machen, Dim Sum zu essen, die Nächte durchzutanzen oder die Zeit totzuschlagen, bis der nächste Flieger nach Australien oder Neuseeland abhebt. Ruhe und Natur sind Begriffe, die wohl die wenigsten mit der ehemaligen britischen Kolonie verbinden. Und doch lässt sich beides genau dort finden. Jenseits der Wolkenkratzer, in den grünen Hügeln rund um die Stadt, erstreckt sich ein Wanderwegenetz, das mehrere Hundert Kilometer umfasst. Nur wenige U-Bahn- und Busstationen sind nötig, um dem Großstadt-Moloch für ein paar Stunden zu entfliehen.

Wirklich geheim scheint dieser Tipp nicht mehr zu sein, denn schon am frühen Sonntagmorgen bildet sich eine lange Warteschlange vor der Standseilbahn, die zum Victoria Peak hinaufführt, dem 552 Meter hohen Hausberg Hongkongs. Es regnet in Strömen, die Luftfeuchtigkeit beträgt nahezu hundert Prozent, und man weiß nicht so recht, was einem in diesem Moment die Stirn herunterläuft: Ist es Regen oder der eigene Schweiß? Egal, Hauptsache, die Stimmung ist gut. Und das ist sie. Die Ausflügler, fast alle Asiaten, lächeln in ihre Handykameras, während die Drahtseilbahn langsam näherkommt. Wie Wanderer sind die wenigsten gekleidet, stattdessen dominieren Goldkettchen, Trenchcoats und Stöckelschuhe. Eine Parfümwolke weht durch die Wartehalle.

Dann endlich die ersehnte Fahrt. Fast vertikal hangelt sich die historische Standseilbahn (Baujahr 1888) den Berg hinauf, vorbei an Hochhäusern, die so groß sind, dass ihre Spitzen in den Regenwolken verschwinden. Je höher man kommt, desto mehr ersetzen Bäume den Beton. Nur auf dem Gipfel wird es noch einmal großstädtisch: Die Endstation dient gleichzeitig als Shoppingmall, was wohl auch den edlen Kleidungsstil der Fahrgäste erklärt. Die meisten verharren dann auch im Inneren, als sich die Waggontüren öffnen. Hinaus in die Natur - also in den Regen - wagt sich kaum jemand.

Das Wanderwegenetz Hongkongs umfasst mehrere Hundert Kilometer

Noch kurz den Eisstand umschiffen, dann ist es geschafft: die grüne Seite Hongkongs! Überall Palmen, Farne und Blätter, die größer sind als Pizzateller. Würde nicht hier und da die Hongkonger Skyline hindurchscheinen, wähnte man sich in einer anderen Welt. In den Baumkronen zwitschern Vögel, zwischen den Ästen sausen Libellen umher. In der Ferne brummt das Triebwerk eines Flugzeugs. Dort hinten, verschluckt von Nebel und Wolken, muss der Flughafen liegen. Eine seltsame Vorstellung, dass Zivilisation und Einsamkeit so eng aneinander grenzen.

Der einfachste Wanderweg, der Morning Trail, ist gerade einmal 3,5 Kilometer lang. Er ist betoniert und an der Hangseite mit einem Metallgitter abgesichert. Wanderer sind auf diesem Abschnitt kaum zu sehen, was am einfachen Terrain liegen mag, vielleicht aber auch am Wetter. Ein Amerikaner kommt mit seiner Frau vorbeigejoggt, gefolgt von einem asiatisch aussehenden Mann, der seinen Hund in einer Reisetasche spazieren trägt. Nach ein paar Hundert Metern schließlich die erste Menschenansammlung: Eine Touristengruppe posiert an einer Stelle, von der die Wolkenkratzer zu sehen sind. Ein gutes Zeichen, denn so langsam reißt der Himmel wieder auf - Wanderwetter!

Mit seinen gut ausgebauten Wegen und der direkten Bahnanbindung zählt der Victoria Peak zu den Ausflugszielen, die auch Reisende ohne Wanderschuhe locker ansteuern können. Wer mehr Zeit mitbringt, findet rund um Hongkong noch deutlich naturbelassenere Strecken. Gerade die entlegeneren Gegenden der Hongkonger Sonderverwaltungszone - darunter 200 Inseln - erinnern überhaupt nicht mehr an die Metropole. Zwei Drittel der Fläche sind unbebaut, ein Großteil davon zu Fuß erlebbar. Eine besonders schöne Tour führt über den Dragon's Back und endet nach 8,5 Kilometern an einem beliebten Surferstrand. Je nach Geschmack (und Zeit) können buddhistische Tempel, Vogelschutzgebiete oder mit Blumen bewachsene Hänge angesteuert werden.

"Unsere Kunden wollen im Schnitt zwischen zwei und drei Stunden unterwegs sein", erklärt Yeung Ka Lun, ein 31-jähriger Hongkonger, der Urlauber hauptberuflich durch die Landschaft führt. Am beliebtesten seien die Touren zu den vulkanisch geprägten Gegenden wie Sharp Island oder High Island. "Der Vulkan ist vor 140 Millionen Jahren ausgebrochen", sagt Ka Lun, "aber die Nachwirkungen sieht man noch heute." Die braunen Felsbrocken und schillernd blauen Wasseroberflächen seien der Grund, warum sich Urlauber überhaupt in die Natur begeben: "Den meisten geht es um gute Fotomotive", räumt Ka Lun ein. "Das Besondere an Hongkong ist, dass wir diese Gegenden in weniger als einer Stunde mit dem öffentlichen Nahverkehr erreichen."

Noch vor zehn Jahren hätte bei Hongkong niemand ans Wandern gedacht, sagt der Guide. "Da sind die Leute hauptsächlich zum Shoppen gekommen. Oder in den Freizeitpark gegangen." Inzwischen habe sich die Einstellung verändert. "Die Leute wollen etwas Besonderes erleben, an das man nicht sofort denkt. Letztens hatte ich eine Amerikanerin hier, die mich für zwölf Tage am Stück gebucht hat." Komplett durchziehen konnte die Kundin ihre Wanderung allerdings nicht. Zum einen war das Pensum doch etwas ambitionierter, als es ihre Kräfte zuließen. Zum anderen hatte sie ihre Tour mitten in der Taifun-Saison gebucht. "Aber", beteuert Ka Lun, "schon ein Jahr später hat sie das Ganze wiederholt und ihr ehrgeiziges Programm geschafft."

Für die meisten Hongkong-Besucher sind solche Ziele wohl illusorisch, Natur hin oder her. Die durchschnittliche Aufenthaltszeit von deutschen Gästen in der Stadt beträgt nach Angaben der Tourismusbehörde lediglich 3,5 Tage. Doch auch für solche Kurzurlauber, die Hongkong lediglich als Zwischenstopp unterwegs zu anderen Zielen betrachten, hat Wanderführer Ka Lun einen Tipp parat. "Entweder ihr fahrt zum Victoria Peak hinauf und lauft eine kleine Strecke. Oder ihr geht mitten in Hongkong in den Kowloon Park." Auch dort gibt es heimische Pflanzen, sorgsam gepflegte Wege und allerlei Fotomotive zu entdecken. Und Vögel - eingesperrt in einer Voliere.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4423118
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.05.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.