Süddeutsche Zeitung

Dolomiten:Cluburlaub für Menschen mit rasierten Waden

Lesezeit: 4 min

Wie kann ein Radrennen für Hobbyfahrer in den Alpen noch auffallen? Indem es perfekt organisiert wird - manchmal zu perfekt.

Von Sebastian Herrmann

Der erste Schuh rastet in das Clickpedal ein. Einer der Helfer am Start packt das Rennrad von hinten am Sattel. Der Fahrer nimmt den zweiten Fuß von Boden und rastet auch diesen ein. "Der nächste Fahrer aus Deutschland", ruft Luca ins Mikrofon, ein junger Italiener, der für den Veranstalter dieses Rennens arbeitet. Heute gibt er den Zeremonienmeister am Start und kündigt jeden Fahrer an, der dann aus einem Zelt über eine Rampe hinab rollt und vorbei an Sponsorenlogos und Werbebannern zum letzten Akt dieser dreitätigen Rennsimulation namens "Haute Route Dolomites" aufbricht: dem Bergzeitfahren.

"Alles okay?", fragt der Helfer, der den Sattel fixiert. Der Radler nickt. Eine große Anzeige zählt die Sekunden herunter, bis ein langer Pfeifton ertönt. "Go!", schreit Luca ins Mikrofon, der Radler rollt die Rampe hinab, fährt kurz über Kopfsteinpflaster neben der Kirche von Predazzo und tritt der letzten Quälerei dieser drei Tage entgegen: alleine gegen die Uhr, knapp acht Kilometer mit knapp 800 Höhenmetern hinauf auf die Alpe di Pampeago, eine Skistation, die im Sommer vor allem dadurch besticht, dass hier der Tross des Giro d'Italia öfter mal eine Etappe beendet. Die Auffahrt ist steil, die Uhr tickt, der Puls hämmert, jetzt nur nicht überzocken und nur nicht locker lassen. Die Beine brennen und der Geist stellt während dieses Leidensweges die Frage: Warum? Warum fährt man bei einem dreitägigen Etappenrennen für Hobbyfahrer mit und quält sich nun am Anschlag einen Berg hinauf?

Wegen der großartigen Landschaft in den Dolomiten? Die ersten beiden Etappen der Haute Route Dolomites sind jeweils etwa 125 Kilometer lang, haben laut Ausschreibung beide um die 4000 Höhenmeter und führen über viele sehr bekannte und sehr schöne Pässe dieses Gebirges: Von Predazzo im Val di Fiemme verlaufen die Routen über den Passo di Lavazè, den Passo Nigra, das Sellajoch, den Passo Rolle und über kleinere Bergkuppen. Der Fels des Rosengartens strahlt, der Langkofel, der Sellastock und andere Gipfel beeindrucken - aber das ließe sich auch ohne tickende Uhr im Nacken, ohne Konkurrenz und vielleicht sogar an manchen Tagen mit etwas weniger Verkehr auf den Straßen erleben.

"Ride like a Pro", fahr wie ein Profi, versprechen die Unterlagen des Veranstalters. Es handelt sich also um eine Art Schauspiel: Die etwa 130 Rennradfahrer haben sich angemeldet, um sich ein klitzekleines bisschen so zu fühlen wie ein Fahrer im Profipeloton. Für das satte Startgeld bekommen die Teilnehmer täglich Massagen, Mittagessen, eine Pasta-Party am Vorabend der ersten Etappe. An den Strecken stehen gut ausgestattete Verpflegungsstationen. Es sind Wagen sowie Motorräder der Firma Mavic mit Ersatzrädern dabei, wie eben auch bei der Tour de France. Begleitfahrzeuge sichern die Strecke. Die Teilnehmer bekommen eine Radhose, ein Trikot, Armwärmer, Warnweste, Medaille und ein Finisher-T-Shirt. Alles mit Haute-Route-Logo versehen, das auch die kleine Zeltstadt im Herzen von Predazzo dominiert.

Die meisten haben durch die Doping-Dokumentation "Ikarus" von der Rennserie gehört

Jeden Abend findet ein Fahrerbriefing im örtlichen Kino statt, durch das Rennleiter Davide und Moderator Ade führen, beide in makellos weißen Hemden mit Logo. Bevor das eigentliche Briefing beginnt - Zustand der Straßen, Wetter, wo ist das Rennen wegen Gefahren neutralisiert - laufen Videos mit Szenen der Etappe auf der Leinwand, unterlegt von dramatischer Musik mit etwas zu viel Pathos. Und es werden Produkte aus der Haute-Route-Serie angepriesen: vom Medaillenhalter bis hin zum sogenannten Infinity Pass, der dem Käufer ermöglicht, an allen 13 für das Jahr 2019 geplanten Haute-Route-Events teilzunehmen, in Norwegen, den Alpen, den Pyrenäen, in den Rocky Mountains, in Oman, in Mexiko. Mal dauern die Rennen drei, mal sieben Tage. In manchen Momenten fühlt es sich in an, als sei dies hier in Predazzo mehr Verkaufsveranstaltung als Radrennen, ein perfekt durchorganisierter Cluburlaub inklusive Werbepausen für Menschen mit rasierten Waden.

Der Nimbus der Haute-Route-Serie speist sich jedoch aus dem Abgrund des Radsports. Wer einen der Teilnehmer fragt, wie er von der Veranstaltung gehört hat, bekommt oft die Antwort, die auch Dennis gibt, ein sehr großer, sehr blonder Fahrer aus München, 25 Jahre alt. "Netflix", sagt er. Der US-Regisseur Bryan Fogel, selbst ein starker Rennradler, nahm für seine oscargekrönte Sport-Dokumentation "Ikarus" nach einem Jahr Brachial-Doping-Kur à la Lance Armstrong an der Ur-Version der Haute Route teil, sieben Etappen in den Alpen, damals vermarktet als härtestes Amateurrennen der Welt. Er gewann nicht - bescherte der Rennserie mit seinem Film aber Gratiswerbung.

In den Dolomiten besteht das Feld vor allem aus starken Fahrern. Die ersten zehn im Klassement fahren nah am Profiniveau. Es sind Sportler, welche die großen Radmarathons in den Alpen gewinnen können. Einige der Spitzenfahrer schwänzen das abendliche Briefing, weil der Termin mit ihrem Ernährungs-Schlaf-Regenerations-Zeitplan kollidiert. Der Rest des Feldes geht ebenfalls im Detailwahnsinn des Rennradwesens auf: Wer ohne Leistungsmesser am Rad auftaucht, gilt fast schon als Exot. Entsprechend fallen die Gespräche unter den Teilnehmern aus, die mehrheitlich aus Großbritannien, Skandinavien, den USA und viele selbst aus Brasilien kommen, auch ein Ronaldo fährt mit.

Während der Pasta-Party vor dem ersten Tag sitzen Pete und Paul mit am Tisch, zwei Fahrer aus London. Das Gespräch kreist darum, wie viel Watt sie wie lang am Berg treten können, wie man im Rennen während der Fahrt vom Rad pinkelt ohne sich einzusauen und biegt schließlich zur Frage ab, was der ehemalige britische Tour-Sieger Bradley Wiggins heute macht und wieso eigentlich niemand Chris Froome leiden kann. Hier dreht sich alles um Radsport, und die Sache ist perfekt, manchmal fast zu perfekt organisiert.

Deshalb also fahren die keuchenden Rennradler hier in den Dolomiten steile Berge hinauf - für das Gefühl, Teil eines Pelotons zu sein, ein Rennen zu fahren, sich mit anderen und sich selbst zu messen. Und um auf andere zu treffen, die der gleichen Leidenschaft hinterher eilen: den freundlichen Luc aus Belgien, ein unfassbar starker Fahrer jenseits der 60, den ebenso freundlichen Roman aus Prag, der sein Rad trotz viel zu schwerer Übersetzung über die Pässe tritt, den stets gut gelaunten Banker Keith aus London und viele andere, die am Ende alle mit hämmerndem Puls die Alpe di Pampeago erreichen.

Oben im Ziel explodiert der Schmerz ohnehin zu einem Glücksfeuerwerk: geschafft, wie geil! Und wie egal, dass andere schneller waren, wie großartig, dass die eigene Platzierung dennoch ordentlich ist - und wie praktisch, dass man sich die ganze Zeit um nichts kümmern musste, als zu essen, zu schlafen und zu radeln.

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Quelle:
SZ vom 27.09.2018
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