„Wie seltsam, diesen Planeten Erde zu nennen, wo er doch vor allem ein Ozean ist.“
Arthur C. Clarke
Würden Sie in ein Flugzeug steigen, das mit etwa zehnprozentiger Wahrscheinlichkeit abstürzt, vielleicht etwas weniger, vielleicht aber auch mehr? Und wenn Sie keine Wahl hätten, wie würden Sie sich fühlen auf dem Flug?
Die Erde wird nicht abstürzen, das verhindert die Gravitation. Aber wenn die Erderwärmung eines Tages eine gewaltige Umwälzzirkulation im Atlantik zusammenbrechen lassen sollte, würde das vieles fundamental verändern. Dies ist die Geschichte eines Systems, das kaum jemand kennt, das aber das Schicksal der Menschen mitbestimmt.
Eleanor Frajka-Williams’ schönste Momente auf dieser Forschungsreise sind die, in denen sie übers weite Wasser schaut. Mit der ersten Kaffeetasse läuft die Ozeanologin jeden Morgen raus an Deck, Nase in den Wind und dann fünfzehn Minuten gucken: Mal ist das Meer dunkelblau, mal grau, schwarz, türkis, grell, wild, flach, blendend metallisch. Immer derselbe Ozean, jedes Mal anders. Ab und an kommen Delfine vorbei und springen in der Bugwelle des Forschungsschiffes Maria S. Merian herum. Drei Wochen dauert die Reise im Herbst 2023, von Grönland aus zu den Messorten vor Neufundland bis zu den Azoren.
Eleanor Frajka-Williams’ Hauptjob auf dieser Expedition: Messgeräte im Wert von mehr als zwei Millionen Euro im Meer versenken. Sie sollen helfen, ein gigantisches Strömungssystem besser zu verstehen, das für das Klima der gesamten Erde entscheidend ist: die Atlantische Umwälzzirkulation, auf Englisch Atlantic Meridional Overturning Circulation oder kurz AMOC genannt. Oft wird sie mit dem Golfstrom verwechselt, aber dazu später mehr.
„Ursprünglich habe ich die Ozeanografie für mich entdeckt, weil ich bei dieser Arbeit mein Interesse für Mathematik und Informatik mit meiner Liebe zur Natur verbinden kann“, sagt Frajka-Williams. „Heute mache ich es vor allem, weil es so grundlegend wichtig für eine gesunde Zukunft der Menschen auf der Erde ist.“
Deshalb hieven Frajka-Williams und ihr Team in Tag- und Nachtschichten mit Kränen vom Schiff aus verschiedene Messgeräte ins Meer. Manche sinken bis zu 4000 Meter tief hinab.
Die Messstellen liegen in der Gegend rund um die „Flämische Kappe“, also vor Neufundland, weil hier besonders interessante Vermischungsprozesse passieren. Aber am Ende braucht, wer die Vorgänge in der Tiefe verstehen möchte, ganz besonders: Geduld.
Erst seit 2004 gibt es direkte Messungen der Atlantischen Umwälzzirkulation, in der Klimaforschung ist das ein sehr kurzer Zeitraum. Die Geräte, die die Maria S. Merian versenkt, werden im Sommer 2025 wieder aus dem Atlantik geborgen und ausgewertet. Wenn man die Ergebnisse ähnlicher Forschungsprojekte aus den vergangenen Jahren betrachtet, sagt Eleanor Frajka-Williams, dann werde vor allem eines deutlich: Je mehr man weiß, desto mehr Fragen tauchen auf.
„Wenn man heute ein Fachbuch von vor 20 Jahren über die Ozeanzirkulationen ansieht, dann stehen da viele Dinge drin, die wir heute als ziemlich falsch betrachten. Die Millionen-Dollar-Frage ist nun, ob das, was wir heute zu wissen glauben, in 20 Jahren auch wieder veraltet sein wird“, sagt Frajka-Williams.
Und so handelt diese Geschichte auch von Unsicherheit und davon, wie man mit ihr umgeht. Denn Unsicherheit, das heißt in der Wissenschaft eben nicht, dass man nicht weiß, wovon man spricht. Sondern dass man weiß, wie schnell man falschliegen kann.
Manche Forschende sind ziemlich sicher, dass die AMOC in einer wärmeren Welt schwächer wird und irgendwann abbricht. Andere sind eher skeptisch, ob man das schon so sagen kann. Aber niemand, mit dem wir für diese Geschichte gesprochen haben, möchte es ausschließen. Eleanor Frajka-Williams sagt: „Ich bin besorgt um die Zukunft der AMOC. Aber gegen diese Sorge kann nur helfen: die Sache besser zu verstehen.“
Was aber ist das überhaupt, die AMOC? Das M steht für „Meridional“, das bezeichnet eine Bewegung von Süden nach Norden oder umgekehrt.
Die Abläufe in dieser Zirkulation sind komplex und diffus. Um sie verständlich zu machen, stellen wir uns den Atlantik als große Wanne vor, deren Inhalt wir im Querschnitt betrachten können.
Die Erderwärmung droht nun der AMOC ihren Antrieb zu nehmen. Und das hätte wiederum gravierende Auswirkungen auf unser Klima. Aber warum?
Stefan Rahmstorf hat 1991 kurz nach seiner Doktorarbeit in Ozeanografie begonnen, sich mit der Atlantischen Umwälzzirkulation zu beschäftigen. Heute ist er einer der bekanntesten Klimaforscher überhaupt.
Rahmstorf war gerade in Jakarta, sieben Klimavorträge in vier Tagen, in einem davon ging es auch um die AMOC. Braungebrannt sitzt der Physiker Mitte November in seinem Büro am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Herrschaftliches Backsteingebäude, hohe Räume, vor dem Zimmer des Professors ist eine Leine an der Wand gespannt, an der ausgedruckt und zusammengetackert neueste Studien hängen wie Wäsche zum Trocknen.
Er kann die wichtigen Dinge also alle aus dem Stegreif erklären. Und das Wichtigste ist für ihn: Die AMOC verlangsamt sich bereits. Nie im vergangenen Jahrtausend war sie so schwach wie heute, wie Rahmstorf und seine Kollegen vor einigen Jahren in Nature Geoscience argumentierten. Und: Das System hat einen Kipppunkt, es wird also irgendwann im Laufe einer Abschwächung irreversibel in einen neuen Zustand wechseln, an dessen Ende das komplette Versiegen der Strömung steht. „Beyond reasonable doubt“, sagt Rahmstorf, also ohne jeden vernünftigen Zweifel. „Die Frage, ob wir diesen Kipppunkt überschreiten, hängt von Ausmaß und Tempo der globalen Erwärmung ab. Wo er aber liegt, wissen wir nicht“, sagt er.
Die Theorie dahinter lautet stark vereinfacht wie folgt:
Im schlimmsten Fall reißt die Atlantische Umwälzzirkulation irgendwann ab. Dann könnte es – so die Theorie – Jahrtausende dauern, bis sie wieder in Schwung käme.
Wenn man Stefan Rahmstorf fragt, warum er sich so sicher ist, dass die AMOC bereits abbremst, zückt er sein Handy – und schüttelt dann doch den Kopf: Ach, das finde man selbst, das stehe doch alles in seinem Blog oder auf Youtube. In seinen AMOC-Vorträgen zeigt Rahmstorf bunte Grafiken mit Kurven, die sich tendenziell in Wellen nach unten bewegen.
Eine aktualisierte Version dieser Grafik sieht so aus:
Für Rahmstorf gibt es aber noch weitere Hinweise, dass die AMOC bereits schwächelt. Ganz entscheidend ist dabei der „Cold Blob“, eine Region im Nordatlantik, bis zu dreimal so groß wie Deutschland, in der etwas Seltsames passiert.
In einer Studie aus dem Jahr 2018 hat ein Team um Rahmstorf aus diesem Muster geschlossen, dass sich die Atlantische Umwälzzirkulation seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts bereits um rund 15 Prozent abgeschwächt haben dürfte. Unterstützt sieht er diese These dadurch, dass der Cold Blob auch in einigen Klimamodellen sichtbar wird. Gleichzeitig zeige sich an der Ostküste der USA eine überdurchschnittliche Erwärmung, was ebenfalls auf eine Verschiebung der Strömungen hinweise. Die schwächelnde Umwälzzirkulation hinterlasse ihren Fingerabdruck.
Und der Kipppunkt?
Rahmstorf sagt: „Wenn die Zirkulation sich mal nicht mehr nur um 15, sondern, sagen wir, um 50 Prozent abgeschwächt hat, würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass wir über dem Kipppunkt sind. Aber wenn wir das 1,5-Grad-Ziel einhielten: Dann kämen wir womöglich davon.“ Er forscht schon sehr lange zu dem Thema. Über viele Jahrzehnte habe er das Risiko für eher gering gehalten, so wie es auch in den Berichten des Weltklimarats steht. Unter zehn Prozent bis 2100, steht da. „Aber zum einen: Ist das nicht ohnehin schon ein viel zu hohes Risiko für so ein Katastrophenszenario?“ Und zum anderen: Neuere Studien deuten für ihn schon darauf hin, dass das ganze System deutlich instabiler sein könnte als gedacht. „Das hat meine Perspektive zuletzt verändert.“ Das sei kein Alarmismus, sondern der alarmierenden Situation angemessen: „Ich halte es für meine Verpflichtung als Wissenschaftler, auf alle Risiken hinzuweisen. Und dabei nicht darüber nachzudenken, was jemanden beunruhigen könnte.“
Eine der Studien, von denen Rahmstorf da spricht, hat im vergangenen Sommer besonders viel Aufsehen erregt. Sie stammt von einem dänischen Geschwisterpaar namens Peter und Susanne Ditlevsen. Die Ditlevsens nannten ein Datum für den möglichen AMOC-Kollaps. Und das liegt verdammt nah.
Ein winziges Büro im Niels-Bohr-Institut der Universität Kopenhagen. An der Wand hängt eine Weltkarte aus den Sechzigerjahren, darunter lehnt eine schmale Matratze. An sehr langen Uni-Tagen klappt Peter Ditlevsen sie um und macht einen Mittagsschlaf unter der Antarktis. Wobei der Professor für Klimaphysik sagt, dass er seit dem 25. Juli eigentlich nie mehr zu einem seiner Nickerchen gekommen sei. „Zu viel los“, sagt er. „Ein riesiger Tsunami“, ergänzt seine Schwester Susanne.
An jenem 25. Juli veröffentlichten die Geschwister ihren Aufsatz im Fachmagazin Nature Communications, der seither 350 000-mal heruntergeladen und in über 4000 Zeitungstexten diskutiert wurde, unter anderem auf den Titelseiten der New York Times und des Guardian. In der Arbeit geht es um Stochastik, Klimaphysik und Strömungslehre, komplizierte Angelegenheit. Aber sie folgern am Ende aus all ihren Formeln und Grafiken, dass die AMOC sehr viel früher kollabieren könnte als bisher angenommen. Nämlich irgendwann zwischen 2025 und 2095. So stand es auch in der Pressemitteilung. 2025: Das wäre praktisch sofort.
Susanne Ditlevsen zuckt mit den Achseln: „Im Nachhinein bereuen wir, diese Zahl da so prominent reingeschrieben zu haben.“ „Du hast die da reingeschrieben“, sagt ihr Bruder. Susanne Ditlevsen lacht, ihre weißen Locken wippen dabei um ihren Kopf herum. „Okay, ich hab sie da reingeschrieben.“ Sie sagt, sie habe die Pressemitteilung als Mathematikerin geschrieben, nicht als jemand, der die gängigen Aufmerksamkeitsmechanismen der Medien im Blick hat. „Und als Wahrscheinlichkeitsexpertin muss ich nun mal ein Konfidenzintervall angeben.“ Ein was? „Na, den Zeitraum, in dem ich damit rechne, dass das Ereignis stattfindet.“
Das Ereignis. Wenn es kommt, wird es die Welt komplett auf den Kopf stellen. Peter Ditlevsen zeigt auf die alte Weltkarte an der Wand und wandert mit dem Finger auf den Breitengraden hin und her, auf denen Dänemark und Skandinavien liegen. „Nordeuropa liegt auf einer Höhe mit Kamtschatka, Nordkanada und Alaska. Da ist es jeweils viel kälter als bei uns, weil der Pazifik keinen vergleichbaren Wärmestrom Richtung Norden schickt. Wenn in Großbritannien ungefähr die Temperaturen von Anchorage herrschen, sehe ich nicht, wie man dort noch Landwirtschaft betreiben könnte.“
Susanne Ditlevsen ist kurz aus ihrem Institut herübergeradelt. Sie ist ebenfalls Professorin, als Leiterin der Sektion für Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie arbeitet sie seit vielen Jahren an der Grenze zwischen Mathematik und den Naturwissenschaften. Mal analysiert sie neurowissenschaftliche Datensätze, mal untersucht sie gemeinsam mit Geowissenschaftlern die Eisdicke der Baffin Bay. Die Naturwissenschaftler kommen zu ihr mit ihren Datensätzen und wollen wissen: „Wie analysiert man das?“ Sie sagt dann gerne: „Hängt davon ab, was Ihre Frage ist.“
Ihr Bruder wusste genau, was seine Frage war. „Ich wollte die Prognosen des Weltklimarats zur schwächer werdenden AMOC genauer unterfüttern.“ Dabei stützen sie sich auf indirekte Messungen und führen die beobachteten Trends in die Zukunft fort. „Susanne kann diesen Berechnungen statistische Sicherheit hinzufügen. Und das Ereignis, wovon wir hier sprechen, ist so unfassbar riesig, da sollte man sich schon sicher sein, wenn man was behauptet.“
Für ihre Prognose haben die Ditlevsens also indirekt erfasste Oberflächentemperaturdaten im Nordatlantik zwischen 1871 und 2020 als Indikatoren für die Stärke der AMOC verwendet. Direkte Messdaten gibt es zwar gerade für den Anfang dieser Zeitspanne nur wenige aus der Region im Nordatlantik, auf die es ankommt. Aber anhand von Schiffsmessungen, später Bojen- und Satellitenmessungen haben Forscher des britischen Met Office mit statistischen Methoden ein einigermaßen dichtes Datennetz rekonstruiert. Dieser Datensatz kommt in der Klimaforschung oft zum Einsatz, auch die Ditlevsens verwendeten ihn. Und berechneten dann mit einem sehr einfachen Modell, wie sich dieses System weiterentwickeln könnte.
Mit dem Ergebnis, dass der Zusammenbruch der atlantischen Zirkulation offenbar schnell näher rückt. Susanne Ditlevsen zeichnet eine hügelförmige Linie in die Büroluft: „Am Anfang und am Ende des Intervalls, also 2025 und 2095, ist die Wahrscheinlichkeit am geringsten. Aber Mitte der Fünfziger-, Sechzigerjahre ist sie sehr hoch.“ Das wäre in dreißig, vierzig Jahren. Sie zuckt mit den Achseln. „Vielleicht war unser Modell zu simpel.“
Tatsächlich bemängeln viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Studie, dass die Oberflächentemperaturdaten nicht ausreichen, um so konkrete Rückschlüsse auf die Stabilität der AMOC zu ziehen. Die physikalische Formel, mit der die Ditlevsens gearbeitet haben, sei zu schlicht, um der Realität gerecht zu werden.
Peter Ditlevsen findet das kein gutes Argument: „Einstein hat gesagt: Mach es so einfach wie möglich.“ Aber wie einfach darf es sein, wenn es die hochkomplexe Wirklichkeit abbilden soll?
„Wir alle sprechen viel von der Schmelze in Grönland“, sagt Ditlevsen zum Abschied, „aber da geht es um einen Prozess von mehreren Hundert Jahren. Der Kollaps des AMOC wird sehr viel früher stattfinden. Warum ist das nicht mehr Thema?“ Seine Schwester sagt, sie hoffe, „dass der Sommer dieses Jahres mit seinen fast schon täglich auftretenden Extremereignissen eine Bewusstseinsveränderung bei den führenden Politikern befördert“.
Es gibt noch ein ganz anderes Argument, warum Forschern ein Versiegen der AMOC realistisch erscheint, und es hat nichts mit einfachen oder komplizierten Modellen zu tun: Sie ist wahrscheinlich schon mehrfach versiegt. In der Erdgeschichte war die AMOC alles andere als eine Konstante – mal lief sie und mal nicht.
Woher man das weiß? Hier betritt man das Forschungsfeld der Paläoklimatologie. Paläoklimatologen rekonstruieren die Klimageschichte des Planeten aus Spuren in natürlichen Klimaarchiven, etwa im Eis, in Tropfsteinen oder Sedimenten.
Frank Sirocko, sanfter norddeutscher Akzent und lässiger Gang, erforscht an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz das Wetter der vergangenen 50 000 Jahre.
Die Frage, wie der Atlantik das Klima Mitteleuropas beeinflusst und was passiert, wenn die AMOC anhält, beschäftigt den Paläoklimatologen seit mehr als zwei Jahrzehnten. Der Schatz, der die Antwort auf diese Frage enthalten soll, liegt im Keller unter Sirockos Büro im Institut für Geowissenschaften. In einem Kühlraum, der mit seiner schweren Tür wirkt wie ein Tresor, lagern in Abschnitte zerteilte Sedimentbohrkerne, insgesamt 2700 Meter. Das sind Querschnitte, die mit langen hohlen Bohrern aus der Erde gedreht werden und die Sedimente ans Licht bringen, die sich über die Jahrtausende an einem bestimmten Ort abgelagert haben.
Sirockos Bohrkerne, geschützt von Archivröhren aus weißem Kunststoff, stapeln sich auf Paletten und in Regalen bis unter die Decke. Die Röhren unterscheiden sich nur durch eine handschriftliche Kombination aus Zahlen und Buchstaben an der Stirnseite. „Wenn Sie sagen, ich möchte mir die Zeit 25 587 Jahre vor heute anschauen, dann gucke ich in meine Tabelle und sage: Da haben wir’s“, sagt Sirocko und tippt auf eine der Röhren.
Dass es den Geologen damals von der Universität Kiel nach Mainz und damit in die Nähe der Eifelmaare verschlagen hat, war ein Glücksfall. Denn die Sedimente, die sich in der letzten Eiszeit abgelagert haben, sind in Zentraleuropa praktisch nirgends so gut erhalten wie am Grund dieser Maarseen. „Das perfekte Archiv“, sagt Sirocko. Und ein relevantes. Denn was Sirocko anhand der Kerne rekonstruiert, ist zwar nur das historische Eifel-Wetter, im Großen und Ganzen ist es aber stellvertretend für Zentraleuropa.
Sirocko hat einen seiner Kerne auf einem langen Tisch ausbreiten lassen: Auel 4, insgesamt mehr als 80 Meter lang, reicht von 10 000 bis 60 000 Jahre vor heute. Er riecht ein bisschen nach Sandkasten. Sein „schönster Kern“, wie Sirocko bewundernd sagt. Im Aueler Maar, aus dem der Kern stammt, haben sich im Schnitt zwei Millimeter Sediment pro Jahr abgelagert. Sirocko hält das schmale Ende seines Schlüssels an den Bohrkern. „Da, in diesem Zentimeter, stecken fünf Jahreslagen.“ Während er am Tisch entlangschreitet, übersetzt Sirocko, was der Bohrkern darauf zu erzählen hat. Wo Laien nur viele Schattierungen von Matschbraun sehen, sieht er: Hochwasser, die sich als dicke Schlammschicht zeigen, Vulkanausbrüche als schwarze Ascheschichten, die ersten Hinweise auf Menschen in der Region, sich verändernde Vegetation. Und dann ist da dieser eine Abschnitt, etwa 40 000 Jahre alt. Er zeigt ein sogenanntes Dansgaard-Oeschger-Ereignis – eine von etwa zwei Dutzend abrupten Klimaschwankungen während der letzten Eiszeit.
Man sieht: feine Linien, die einen Farbverlauf ergeben – von Braun nach Hellbeige. Innerhalb von nur 100 Jahren ist es hier etwa zehn Grad wärmer geworden, eine gewaltige Veränderung. Ablesen lässt sich das unter anderem an den sich häufenden hellen Schichten. Sie zeigen, dass sich hier Kieselalgen abgelagert haben, die sich erst ab einer bestimmten Temperatur vermehren. Eine breite, dunklere Schicht zeigt ein Hochwasser in der anschließenden stabilen, warmen Phase an. Dann: ein abrupter Farbwechsel zu fast homogenem Dunkelbraun.
„Was wir da sehen, ist das Ende eines warmen Zwischenstadiums. Erst schwankt das Klima über ein paar Jahrzehnte hinweg leicht, dann dauert es nur ein paar Jahre, und wir haben einen völlig neuen Klimazustand.“ Von einer warmen zu einer deutlich kälteren Phase innerhalb weniger Jahre: „Das kriegen Sie nur durch ein großflächig wirksames System erklärt, das sich extrem schnell verändert hat. Und das ist mit großer Wahrscheinlichkeit die AMOC.“ Abgleiche mit anderen Paläo-Daten aus grönländischen Eisbohrkernen haben seine Vermutung bestätigt: „Jede Veränderung der Oberflächentemperaturen im Nordatlantik hat ein entsprechendes Klimasignal auf dem europäischen Kontinent, und zwar sofort.“ Und diese Oberflächentemperaturen, so die Theorie, sind unmittelbar mit der Stärke der AMOC verknüpft.
Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen den Kollaps-Szenarien in der letzten Eiszeit und dem Szenario, das heute diskutiert wird: Damals wurde eine verhältnismäßig warme Phase beendet, weil sich – aus noch ungeklärten Gründen – das arktische Meereis stark ausdehnte. Das führte dazu, dass sich das Tiefenwasser nicht mehr in den sonst üblichen Regionen bilden konnte und die AMOC schließlich ganz versiegte. Zentraleuropa kühlte sich dadurch drastisch ab, Niederschlag gab es deutlich weniger. Heute dagegen bewegt sich das Meereis in die umgekehrte Richtung – es zieht sich zurück. Auch dieser Vorgang kann die AMOC zum Erliegen bringen, die Rahmenbedingungen für das Klima in Europa sind dabei aber andere.
Was lässt sich aus den Eifel-Maaren nun also für diese mögliche Zukunft ablesen? „Aus der Vergangenheit können wir eigentlich nur lernen, wie schnell diese Veränderungen ablaufen können. Da sprechen wir von Jahren und Jahrzehnten“, sagt Sirocko. Wie genau das Klima in Europa danach aussehen könnte, verraten Paläo-Daten wie die aus den Eifelmaaren nicht. „Letztendlich ist das eine ganz andere Welt, wenn die Arktis nicht mehr mit Meereis, sondern mit warmem Wasser bedeckt ist.“ Es könne sein, dass Europa dann viel trockener wird, es könne aber im Extremfall genauso gut sein, dass es hier dann extreme Starkregen gibt.
Bei all den Unsicherheiten steht für Sirocko aber fest: Wenn der Klimawandel der AMOC den Antrieb nimmt, wird sich das Klima in Europa schnell und drastisch verändern. Für uns Menschen dürfte es schwer werden, sich daran anzupassen. „In der öffentlichen Diskussion geht es vor allem um Vermeidung. Aber vieles ist schon nicht mehr aufzuhalten“, sagt Sirocko. „Ich frage mich, ob sich die Leute überhaupt klarmachen, was alles passieren kann, wenn es richtig schiefgeht.“
Womit man direkt in Hollywood wäre. Es gibt einen Blockbuster aus dem Jahr 2004, dessen Handlung auf dem Zusammenbruch der AMOC basiert. „The Day After Tomorrow“ heißt der Klimaschocker von Roland Emmerich, der, nun ja, die Sache fürs Actionkino im Schnelldurchlauf durchspielt. Die AMOC versiegt im Film so abrupt, als hätte der liebe Gott von einer Sekunde auf die andere seinen Whirlpool abgestellt. Die nördliche Welthalbkugel wird schockgefrostet, eine neue Eiszeit beginnt, und Jake Gyllenhaal und Dennis Quaid kämpfen mitten im polarkalten New York mit ausgehungerten Wölfen ums Überleben.
„Selten so einen Stuss gesehen“, knurrt Peter Ditlevsen. Stefan Rahmstorf erzählt in seinen Youtube-Vorträgen gern die Geschichte, wie er sich mal auf einem Event mit dem Drehbuchautor Jeffrey Nachmanoff unterhalten habe. Der habe gesagt: „Schauen Sie, wenn wir einen Film für ein paar Millionen Zuschauer gemacht hätten, dann hätten wir uns an die Regeln der Physik gehalten. Aber wir machen Filme für ein paar Hundert Millionen Zuschauer. Und da halten wir uns an die Regeln Hollywoods.“
Allerdings: Wenn man die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fragt, was denn die realistischen Konsequenzen eines AMOC-Zusammenbruchs wären, klingen auch diese ziemlich apokalyptisch. Denn selbst wenn die Eiseskälte nicht die New Yorker Freiheitsstatue in Sekundenschnelle einfrieren würde, sondern sich der Cold Blob erst einmal eher über Jahrzehnte in Richtung Nordosten ausbreiten würde, wie es eine chinesische Studie 2017 nahelegte: Je nach Szenario könnte das Meereis vor Grönland, Island und Norwegen drastisch zulegen, die durchschnittlichen Wintertemperaturen in Großbritannien, Skandinavien und Deutschland könnten um mehrere Grade zurückgehen.
Bei den abruptesten AMOC-Zustandsänderungen in der Erdgeschichte sind zwar sogar Schwankungen von bis zu 15 Grad innerhalb einiger Jahrzehnte aufgetreten, allerdings eher lokal in Grönland und nicht als Mittelwert der nördlichen Atmosphäre – dazu in Kaltzeiten und nicht während einer globalen Erwärmung.
Vorsichtigere Schätzungen rechnen deshalb eher mit einer Abkühlung von zwei bis fünf Grad in Nordwesteuropa. Und es könnte wohl auch ein paar Jahrzehnte dauern, bis sich die Auswirkungen zeigen würden.
Erwärmt sich die Erde irgendwann um 2,5 Grad, könnte sich der Cold Blob dann aber zum Beispiel auch so ausdehnen:
Dazu kommt: Wenn es global gesehen immer heißer, in einigen Gegenden allerdings bedeutend kälter wird, verschärfen sich die Gegensätze. Das Temperaturgefälle treibt die Winde an, kräftige Unwetter könnten zunehmen, etwa Winterstürme in Großbritannien.
Sehr wahrscheinlich wäre ein erheblicher und zusätzlicher Meeresspiegelanstieg an der Ostküste der USA um mehrere Dezimeter, weil das Meer quasi nach Westen schwappen würde. Wie schnell dort ein Anstieg des Wassers die Infrastruktur überfordert, konnte man diesen Sommer auf den Bildern von überfluteten Stadtteilen und U-Bahn-Schächten in Manhattan sehen. Auch weil das Meer von unten drückte, konnte der Starkregen nicht ablaufen.
Gleichzeitig müsste man für andere Teile der Erde mit extremer Trockenheit rechnen, weil sich die Windsysteme verschieben und verändern würden. So könnte sich etwa der tropische Regengürtel weiter nach Süden verschieben, sodass er nicht mehr über dem Regenwald liegen würde – was in einigen Regionen zu Dürren und in anderen zu Überschwemmungen führen würde. Der Ozean selbst würde weniger Kohlendioxid aufnehmen, was den Klimawandel weiter antreiben würde. Die Sauerstoffzufuhr in der Tiefsee würde sich verringern, ein Zusammenbruch der Ökosysteme im Nordatlantik würde wahrscheinlicher.
Stefan Rahmstorf hält nicht nur die Auswirkungen eines möglichen Kippens der AMOC für ein Problem. Er hält es für sehr wahrscheinlich, dass wir aktuell sogar bereits die Folgen einer Abschwächung spüren. Paradoxerweise komme es während der Abschwächung der AMOC vorerst zu mehr sommerlichen Hitzewellen in Europa. Denn die Abkühlung im Nordatlantik begünstige eine Wettersituation, die heiße Luft vom Süden nach Europa leite.
Erst nach dem Kippen würde sich dann der Cold Blob Richtung Europa ausbreiten. Stecken wir also schon mittendrin?
Wenn man ihn nach dem Abschwächen der AMOC in Richtung Kipppunkt fragt, wiegt Jochem Marotzke im Videobild langsam den Kopf hin und her, kein echtes Kopfschütteln, aber definitiv auch kein zustimmendes Nicken. Als Doktorand in den 1980er-Jahren untersuchte er als einer der Ersten überhaupt, was eigentlich mit der Atlantischen Umwälzzirkulation passieren könnte, wenn sich die Erderwärmung fortsetzt. „Lassen Sie es mich so formulieren“, sagt Marotzke, heute Direktor am Max-Planck-Institut (MPI) für Meteorologie in Hamburg. „Das Selbstvertrauen, mit dem einige Kollegen kommunizieren, erstaunt mich. Denn: Es könnte sein. Aber wir wissen es nicht.“
Jochem Marotzke hat noch vier Jahre als Direktor am MPI und möchte in dieser Zeit auch dem Geheimnis der Umwälzzirkulation mit besseren Modellen, besseren Theorien und genaueren Beobachtungsdaten noch tiefer auf die Spur kommen. Er ist im öffentlichen Klimadiskurs immer wieder derjenige, der die Dinge etwas runterkocht. Das ist auch beim Interview so, zwischendurch hält er begeistert Bildbände über Ozeonografie-Ikonen in die Kamera.
Im Gespräch weist er vor allem darauf hin, was man in Bezug auf die AMOC alles noch nicht sicher weiß. Er betont, für wie wichtig er einen gesunden Abstand der Wissenschaft zu ihrem Forschungsgegenstand hält – selbst dann, wenn sehr viel auf dem Spiel steht. Nur halb im Scherz spricht er von der „Kipppunktemafia“, also wissenschaftlichen Kolleginnen und Kollegen, die in ihrer Arbeit die Frage nach an vielen Stellen noch sehr ungewissen unumkehrbaren Abläufen, so sieht er das, stark priorisieren. Vielleicht auch, weil das Konzept von Kipppunkten besonders dringlich klingt?
„Jedes Paper, das sagt: ‚Die AMOC hat sich abgeschwächt‘, bekommt eine riesige Aufmerksamkeit“, sagt Marotzke. Die Paper, die sagen: „Ist gleich geblieben“, würden dagegen weitgehend ignoriert. „Die Belege, die wir haben, die sind zu widersprüchlich. Auch die Modellrechnungen über das letzte Jahrhundert sind zu widersprüchlich. Man kann da alles kriegen, Abschwächung, Verstärkung, bleibt gleich. Wir wissen es nicht.“
Was etwa die Geschwister Ditlevsen im vergangenen Sommer gemacht hätten, eine Studie, die auf so einer einfachen Formel und nicht besonders zuverlässigen Daten basiert, als Beschreibung der realen Welt zu veröffentlichen und mit konkreten Zeitangaben zu versehen, die im starken Widerspruch zum Bericht des Weltklimarats stünden – da müsse er sich ehrlicherweise schon an den Kopf fassen. „Als technisches Methodenpaper – von mir aus. Aber es ist fahrlässig, dieses viel zu einfache Modell für eine echte Vorhersage für die Welt zu nutzen.“
Auch Marotzke ist sich sicher, dass es Kipppunkte im Klimasystem gibt, manche sogar womöglich bereits überschritten sind. Eine weitere Abschwächung der AMOC im 21. Jahrhundert zeigten alle Modelle, wobei unklar sei, wie stark diese Abschwächung sei und wie lange sie andauere, und auch, ob sie wirklich nennenswert von der weiteren Erwärmung abhänge. Es gibt offene Fragen dazu, wie genau sich das Tiefenwasser bilde und wie sich die AMOC aufbaue – sowie wie sich das alles stimmig in Klimamodellen abbilden lasse. Auch könnten noch andere, bisher nicht genau verstandene und vielleicht sogar ausgleichende Mechanismen im Atlantik eine Rolle spielen.
Und dennoch: Wenn es passieren würde, wäre es das Ende der Erde, wie wir sie kennen. „Es ist viel schwerer, sich an abrupte Zustandsveränderungen anzupassen, und die Folgen wären dramatisch. Wir müssen das unbedingt mitdenken, darüber gibt es keinen Disput“, sagt Jochem Marotzke. Aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, und wie weit soll man das ins Zentrum des öffentlichen Diskurses stellen? Welche Rollen spielen das Geschäft mit der Aufmerksamkeit dabei, die Eitelkeit, auch die aufrichtige Sehnsucht vieler Forscher danach, dass die Welt dem Klimawandel entschiedener entgegentritt? „Keiner von uns schafft es wirklich, die eigene Brille ganz abzulegen“, sagt Marotzke. Und: „Wenn die Rettung des Planeten davon abhängt, dass man wissenschaftlich recht hat, dann ist das für niemanden eine leichte Situation.“
Für Jochem Marotzke gehört Eleanor Frajka-Williams zu den wichtigsten AMOC-Experten
überhaupt. Auch auf ihrer 16. Ozeanforschungsreise liebt sie selbst vor allem den praktischen Teil ihrer Arbeit. Klimamodelle, Bohrkerndaten, Rekonstruktionen, Formeln: Alles schön und gut, aber am schönsten ist es, auf dem Meer zu sein, im Schiffslabor an den Geräten herumzufrickeln, zu hoffen, dass das Wetter hält und die Wellen nicht zu groß werden. Abends, nach den langen Schichten, spielt sie gern Tischtennis mit dem Team unter Deck.
„Ich mag es, wie sich an Bord die Zeit anders anfühlt. Ich mag die Arbeit, die direkt vor einem liegt und unmittelbar gemacht werden muss. Ich gucke aufs Wasser, und da ist nichts. Und gleichzeitig weiß ich, dass das, was wir hier tun, Daten kreiert, die wahr sind.“
Diese Daten, da ist sie sicher, sind heute wichtiger denn je. Die Atlantische Umwälzzirkulation scheint an verschiedensten Stellen komplexer zu sein, als man lange dachte. Die Modelle, obwohl in der Auflösung so viel besser, haben Grenzen; insgesamt nimmt die Unsicherheit eher zu als ab. Eleanor Frajka-Williams übersetzt das für sich so: „Wir haben im Moment weniger Vertrauen als früher dahingehend, dass die AMOC nicht kollabiert. Das heißt aber nicht, dass der Kollaps ausgemachte Sache oder auch nur wahrscheinlicher ist als angenommen.“
Die Maria S. Merian, auf der Frajka-Williams unterwegs ist, ist fast 100 Meter lang, kein ganz kleines Schiff. Gegen den riesigen Ozean ist sie winzig, so wie alles, was Menschen je gebaut haben oder je bauen werden. Tief unter ihr folgen die Wassermassen den Strömungen. Vielleicht hat dort unten schon eine unaufhaltsame Veränderung begonnen, vielleicht steht das noch bevor, vielleicht kommt es nie. Aber entscheidend ist am Ende doch etwas anderes: Was, wenn es passiert?