Als Bundeskanzler Helmut Schmidt am 4. Juli 1979 in Bonn ans Redepult des Deutschen Bundestages tritt, steht er noch unter dem Eindruck des Wirtschaftsgipfels in Tokio.
Was Schmidt den Bundestagsabgeordneten von dem Treffen mitbringt, sind Formulierungen wie diese: „In den letzten drei Jahrzehnten haben sich die Emissionen an Kohlendioxid auf der ganzen Welt verdreifacht.“
Es ist eine der ersten Debatten des Bundestages, in denen es um den Klimawandel geht, auch wenn ihn noch keiner so nennt. Der Ausstoß von Treibhausgasen durch die Menschheit führt zu einer beschleunigten Erhitzung der Erde: Dass dieser Zusammenhang besteht, hat die Wissenschaft damals längst belegt. Die „möglichen Konsequenzen für das Klima“ seien „noch nicht sicher abzuschätzen“, sagt Schmidt.
40 Jahre später sind die Folgen des menschengemachten Klimawandels nicht nur abzuschätzen, sondern längst messbar und die Prognosen sind düster. Seit gut einem Jahr demonstrieren junge Menschen deshalb in aller Welt für mehr Klimaschutz. Und nun sprechen die Abgeordneten mehr und vor allem anders über den Klimawandel.
Stimmen die Vorwürfe? Warum hat die Politik nicht - oder zu wenig - gehandelt? Und wie diskutiert der Bundestag heute über den Klimawandel?
Die SZ ist diesen Fragen mithilfe einzigartigen Datenmaterials nachgegangen: Wir haben die Protokolle aller Bundestagsdebatten seit 1949 ausgewertet und untersucht, wie die deutsche Politik über die Klimakrise spricht. Um sinnvoll beurteilen zu können, wie sich der Diskurs in mehr als 4200 Sitzungen entwickelt hat, haben wir neuartige computerlinguistische Verfahren weiterentwickelt und eingesetzt, die uns im ersten Schritt etwa 455 Millionen Datenpunkte geliefert haben - und im zweiten Schritt konkrete Antworten.
Die Auswertung begleitet die Abgeordneten durch die Jahrzehnte. Sie zeigt, wie Generationen von Bundestagsmitgliedern das Thema diskutieren - und lässt erkennen, wie wenig sie die Bedrohung beachten, die vom Klimawandel ausgeht.
Der Bundestag entdeckt den Klimawandel
Jahrzehntelang ist also das Interesse gering: Die Folgen des Klimawandels sind zwar bekannt, aber in Deutschland noch nicht sichtbar.
Der erste Abgeordnete, der im Plenarsaal von einem Klimawandel spricht, ist der damalige Oppositionsführer Helmut Kohl im Januar 1982. (Das Protokoll der Sitzung können Sie hier nachlesen.) Kohl ist aber nicht um die Erdatmosphäre besorgt, sondern um das gesellschaftliche Klima. Das Beispiel zeigt: Um tatsächlich zu verstehen, wie sich die Debatte über die Jahrzehnte verändert hat, reicht es nicht, nur das Vorkommen von Wörtern zu zählen. Es kommt auf den Zusammenhang an: das Framing.
Gemeint ist damit ein Assoziations- und Deutungsrahmen für Begriffe: Wer „Zitrone“ hört, denkt an „sauer“ oder „gelb“. Framing beschreibt, wie Begriffe oder Sprachmuster einen Deutungsrahmen setzen und letztlich das Denken und auch das Handeln steuern. Das lässt sich politisch instrumentalisieren. „Klimawandel“ und „Erderwärmung“ klingen zum Beispiel weniger bedrohlich als „Klimakrise“ und „Klimakatastrophe“.
Die SZ hat einen Algorithmus eingesetzt, um zu untersuchen, in welchem Kontext Wörter verwendet werden. Jedes Wort wird dazu in 300 Zahlen verwandelt. Diese Datenpunkte beschreiben einen Bedeutungsraum. Alle Wörter sind in diesem Raum verortet, so ist es möglich zu errechnen, welche Wörter sich inhaltlich besonders nahe oder ähnlich sind. Das erlaubt die Analyse eines Diskurses, weil ersichtlich wird, wie sich der Kontext und die Bedeutung eines Wortes verschieben.
Ein Blick auf die im Kontext stehenden Wörter erhärtet den Eindruck, dass die Abgeordneten erst anfangen, das Thema ernst zu nehmen, als es sich nicht mehr verdrängen lässt.
Die Grünen kommen ins Parlament, aber nicht der Klimaschutz
Natürlich ist für das Verständnis einer so großen Debatte wie der über das Klima nicht nur der Diskurs im Bundestag relevant - sondern auch der gesellschaftliche Kontext. Seit wann diskutiert der Bundestag über Umweltthemen, seit wann über das Klima - und warum beginnen die beiden Diskurse zu unterschiedlichen Zeitpunkten?
Die verschleppte Globalisierung
Die Veränderung der Erdatmosphäre macht nicht an den Grenze zwischen Nationalstaaten Halt. Aber die Idee internationalen Handelns scheint lange Zeit nicht im Fokus der Abgeordneten und der Politik im Allgemeinen zu stehen. Nach einem ersten, von Meteorologen ausgerichteten, Treffen in Genf vergeht fast ein Jahrzehnt, bis sich die internationale Gemeinschaft erneut mit dem Klima auseinandersetzt: bei Weltklimakonferenzen in Toronto (1988) und wieder in Genf (1990). Die jährliche Klimakonferenz der Vereinten Nationen findet erst von 1995 an statt.
Historiker Uekötter sieht diese Klimakonferenzen als ein Produkt der Endphase des Kalten Kriegs. Eine internationale Zusammenarbeit ist nun leichter denkbar, und bei der Bekämpfung des Ozonlochs hat die Staatengemeinschaft auch gezeigt, dass sie etwas bewegen kann: Im Montrealer Protokoll von 1987 bekennen sich alle Staaten zu ihrer Verpflichtung, die Ozonschicht zu schützen. „Zugleich gibt es noch starke, handlungsfreudige Nationalstaaten, die noch nicht durch die Globalisierung geschwächt sind“, sagt Uekötter.
Das Kyoto-Protokoll entsteht in dieser Zeit - Uekötter zufolge genau in dem Geiste, den Erfolg im Kampf gegen das Ozonloch beim Klima zu wiederholen. Die Vereinbarung der Vereinten Nationen legt erstmals Ziele für den Ausstoß von Treibhausgasen in den Industrieländern fest. Doch obwohl die Vereinbarung - vor allem, um die USA an Bord zu holen - vage gehalten ist, dauert es sieben Jahre, bis sie größtenteils ratifiziert ist. In dieser Zeit, 1998, kommt Rot-Grün an die Macht und gibt sie 2005, bald nach der Kyoto-Ratifizierung, wieder ab. Aber die Debatte im Bundestag verändert all das kaum.
Verirrt auf der Suche nach einem Weg?
Welche Rolle spielt Deutschland, einer der zehn Staaten mit dem höchsten CO₂-Ausstoß weltweit, in der Klimapolitik? Welchen Einfluss können unsere Bundestagsabgeordneten überhaupt auf das Erdklima haben?
Zwei Jahre nach Inkrafftreten des Kyoto-Protokolls intensiviert sich also diese Debatte. Aber was ist mit diesem Klimaschutz genau gemeint?
Das Klimapaket, das die große Koalition im September 2019 vereinbart, geht vielen nicht weit genug; etwa diesen wenige Tage später vor dem Kanzleramt Demonstrierenden:
Bundestag und Bundesrat billigen es im Dezember 2019 - trotz der Kritik am Paket der sogenannten Klimakanzlerin.
Mit dem politischen Diskurs über den Klimawandel ändert sich also der über den Klimaschutz. Das bestätigt der Blick auf alle Legislaturperioden:
Die AfD verharmlost das Problem
Die bisherige Analyse lässt erahnen, warum die Politik es in all der Zeit versäumt hat, umfassend zu handeln. In jüngster Zeit kommt hinzu, dass im Bundestag eine Fraktion sitzt, die sich aktiv gegen dieses Handeln wehrt: die AfD.
Seit Beginn der öffentlichen Diskussion zu Zeiten der Bonner Republik leugnen manche den Klimawandel, häufig sind sie Befürworter der Kohleindustrie. Sie säen Zweifel und wollen das Bild vermitteln, dass die Wissenschaft sich über die Natur des Klimawandels nicht im Klaren sei.
Heutzutage werden längst keine „Gegentheorien“ zum menschengemachten Klimawandel mehr in seriösen Publikationen veröffentlicht. Die Tatsache, dass jedes weitere Grad dramatische Folgen haben wird, ist wissenschaftlicher Konsens; auch wenn einzelne Modelle, wie sich diese Folgen gestalten werden, leicht voneinander abweichen. Ausgerechnet in dieser Zeit aber vertreten AfD-Abgeordnete Thesen, die die Klimakrise verharmlosen oder gar abstreiten.
Klimahysterie, das Unwort des Jahres 2019, wurde von 2018 bis heute 19-mal im Bundestag gesagt, sechs weitere Male ging es um abgewandelte Formulierungen wie klimahysterisch. Einmal kam das Wort von einem CDU-Politiker, sonst immer von AfD-Abgeordneten.
Solche Begrifflichkeiten passen dazu, dass die AfD heute vor allem versucht, den Stellenwert der öffentlichen Debatte und die angeblich überzogene Energiepolitik der Bundesregierung zu kritisieren. Denn eine eindeutige Festlegung der AfD zum Thema gibt es nicht. Inzwischen hat sich gezeigt, dass die von ihr propagierte „Skepsis“ nicht unbedingt dem Wunsch des Wahlvolks entspricht. So ermittelte der ARD-Deutschlandtrend im Mai 2019, dass eine Mehrheit von 60 Prozent der AfD-Anhängerschaft einen Einfluss der Menschheit auf das Klima sieht.
Was die Protokolle über den Klimadiskurs aussagen
Seit Langem ist der menschengemachte Klimawandel bekannt und auch der Politik bewusst. Aber in all dieser Zeit findet niemand so deutliche Worte für die Lage, wie sie die jugendliche Aktivistin Thunberg schließlich formulieren wird. Auch im Bundestag ist der Diskurs zunächst verharmlosend, wie die Analyse der Bundestagsprotokolle zeigt.
Die SZ-Datenrecherche kann die Frage, warum die Politik nicht gehandelt hat, sicher nicht abschließend beantworten. Aber sie kann Vermutungen bestätigen und neue Hinweise auf die Ursachen dieses Versagens geben:
Das gesellschaftliche Interesse an Umwelt- und Naturschutz brachte die Grünen in den Bundestag, aber das Interesse war nicht stark genug, um eine nachhaltige Veränderung beim Klimaschutz anzustoßen. Zunächst galt das Klima als eines von vielen Umweltthemen.
Eine gemeinsame internationale Anstrengung war lange Zeit undenkbar.
Die Politik konnte sich nicht auf Lösungsvorschläge verständigen und diese verfolgen.
Bis heute wird das Problem bagatellisiert oder sogar geleugnet.
Wenn Sie sich die Ergebnisse gern selbst genauer erschließen möchten, klicken Sie sich durch unser interaktives Schaubild-Tool:
Was unsere Datenrecherche aber auch zeigt: Heute sprechen die Bundestagsabgeordneten nicht nur mehr, sondern auch anders über den Klimawandel als bis noch vor wenigen Jahren. Spannend wird sein, ob das so bleiben wird. Womöglich hat sich der Klima-Diskurs unter der Reichstagskuppel ja nachhaltig verändert.
Mithilfe des neuen Algorithmus hat die SZ auch den Diskurs zum Thema Flucht und Migration ausgewertet; die Ergebnisse finden Sie hier:
Und wie die Methode funktioniert und wie wir sie angewendet haben, erklären wir hier: