Beinahe täglich sterben Menschen auf dem Weg nach Europa. Sie ertrinken im Mittelmeer und im Atlantik, ersticken in Lastwagen oder verschwinden für immer in der algerischen Wüste oder in libyschen Foltercamps. Manchmal erscheint es, als hätten sich die Regierenden in Europa an dieses Sterben gewöhnt.
Doch die Szenen, die sich vor zwei Wochen an der spanisch-marokkanischen Grenze in Melilla ereigneten, waren anders: An jenem Freitag kamen mindestens 23 Menschen auf bislang ungeklärte Weise ums Leben. Sie starben an einem der wenigen Punkte, an denen sich Europa und Afrika buchstäblich berühren, denn die beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla bilden die einzigen Landgrenzen zwischen der EU und Afrika.

Die Menschen starben vor aller Augen: Wenige Stunden nach dem Ereignis waren die sozialen Medien voll mit Bildern und Videos, die einzelne Szenen dokumentieren.
Was genau in Melilla an jenem Tag geschehen ist, wird Europa noch länger beschäftigen. Die EU-Innenkommissarin Ylva Johansson sprach in dieser Woche von einem „schwarzen Freitag“ für die EU und betonte, das Wichtigste sei nun, die Fakten zu klären. Auch die spanische Staatsanwaltschaft will der Frage nachgehen, wie es zu der hohen Zahl an Opfern kommen konnte und ob an jenem Tag die Menschenrechte von Migranten verletzt wurden. Hätte man die Opfer vermeiden können? Oder könnten sich die Vorfälle jederzeit wiederholen? Was genau ist an jenem Freitagmorgen geschehen? Der Versuch einer Rekonstruktion.
Die Festung
Die EU hat an ihren Außengrenzen umfangreiche Anlagen installiert, die unerwünschte Einwanderung verhindern sollen. Eine der modernsten und aufwendigsten ist der Grenzzaun von Melilla. Das Sprachbild von der „Festung Europa“ wird hier plötzlich sehr konkret.
Trotz der massiven Befestigung der Grenze versuchen Migranten regelmäßig, die Sperranlagen zu überwinden. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Erst wenn sie es in die spanische Exklave und damit auf europäischen Boden geschafft haben, können sie einen Antrag auf Asyl stellen. Das spanische Innenministerium verzeichnete im vergangenen Jahr 1092 irreguläre Grenzübertritte auf dem Landweg nach Melilla. Im Jahr 2019, also bevor die Pandemie auch in Marokko das Reisen erschwerte, waren es knapp 5000.
Am erfolgversprechendsten ist es aus Sicht der Migranten, sich zu größeren Gruppen zusammenzuschließen und so gemeinsam den Versuch zu starten, die Grenze zu überwinden. Oft haben sie zuvor Monate oder gar Jahre in den Bergen rund um Melilla auf den richtigen Zeitpunkt gewartet.
Geschehen ist dies etwa im Sommer 2021: Damals gelang es 238 Migranten, über die Grenzzäune zu klettern; drei Grenzbeamte wurden damals leicht verletzt. Vor zwei Wochen war es anders: Die Menschenmenge, die sich zum Zaun aufgemacht hatte, war an jenem Freitag größer als sonst üblich. Der Tag endete in einer Tragödie.
In Bewegung
Es ist Freitagmorgen, losgelaufen sind die Menschen womöglich schon in der Dunkelheit, denn sie hatten von ihrem Camp aus etwa 15 Kilometer bis zur Stadtgrenze von Nador zurückzulegen. Am Morgen dokumentieren Anwohner in der Provinz Nador und Melilla aus mehreren Perspektiven, wie Dutzende, wenn nicht Hunderte Menschen die Hänge des Berges Gourougou herunterkommen – und Wagen marokkanischer Polizisten, die in Richtung des Grenzpostens fahren.

Auf den Videos, die von dieser Szene im Netz zu finden sind, hört man Rufe und Pfiffe, die Stimmung wirkt aufgekratzt. Die Angaben darüber, wie viele Migranten sich auf den Weg gemacht haben, variieren: Während die spanische Zeitung El País von etwa 1700 Menschen ausgeht, ist im EU-Parlament in dieser Woche von bis zu 2500 Menschen die Rede.

Diejenigen, die es später auf die spanische Seite des Grenzzauns schaffen sollten, berichten hinterher in spanischen Medien, dass die marokkanische Polizei am Tag zuvor damit begonnen habe, ihr Camp zu räumen. Der Gourougou ist seit Jahren Rückzugsort für Tausende Migranten, sie leben in Lagern und schlafen zum Teil unter freiem Himmel. Die meisten von ihnen stammen nicht aus Marokko, sondern aus südlicheren Ländern wie Mali, Mauretanien, Senegal, dem Sudan oder Tschad. Warum so viele Migranten sich an jenem Tag gleichzeitig in Bewegung setzen, ist nicht geklärt.
Die Gruppe an jenem Freitagmorgen besteht hauptsächlich aus Sudanesen. Fast alle, die später auf spanischer Seite ankommen, stammen aus dem von den Folgen eines Bürgerkriegs und einer drohenden Hungerkatastrophe gebeutelten Land. Sie haben bis nach Marokko rund 4000 Kilometer zurückgelegt. Viele von ihnen waren zuvor in Libyen oder Algerien, fast alle haben schon mehrere Versuche, nach Europa zu gelangen, hinter sich.
Dass die marokkanische Polizei sich den Migranten in den Weg stellt, ist aus spanischer Sicht ein Erfolg der eigenen Diplomatie: Noch im vorigen Jahr hatte Marokko etwa 8000 Menschen ungehindert die Grenze in die Exklave Ceuta passieren lassen. Marokko hatte damals seine Muskeln spielen lassen und der EU vor Augen geführt, wie erpressbar sie in Sachen Migration ist. Die Beziehung zwischen Spanien und Marokko war seither angespannt, auch wenn die meisten Migranten Ceuta binnen weniger Stunden wieder Richtung Marokko verlassen hatten. Erst seit Kurzem entspannt sich die Beziehung zwischen beiden Ländern wieder. In Melilla ist die marokkanische Gendarmerie diesmal rasch zur Stelle. Spaniens Premier Sánchez lobt hinterher die „konstruktive Zusammenarbeit“ spanischer und marokkanischer Grenzbeamter.
Über den Zaun
Anders als bei den meisten früheren Versuchen klettern die Migranten dieses Mal nicht nur auf freiem Feld am Grenzzaun empor. Sie steuern eine ganz bestimmte Stelle an: den Grenzposten im „Barrio Chino“. Offenbar wollen einige von ihnen in die Anlage hineingelangen, um von innen eine Tür zu öffnen und so möglichst vielen Menschen Einlass zu verschaffen.
Viele der Migranten tragen auf dem Weg zur Grenzanlage Holzstöcke und Steine bei sich, wie ein Video eines Anwohners zeigt. Einige haben auch Metallhaken vorbereitet, mit deren Hilfe sie den Zaun erklimmen wollen.

Autofahrer filmen dann von der Straße aus, wie die Migranten zu klettern beginnen. Der Zaun hält dieser Belastung nicht lange stand: Nach wenigen Minuten stürzt er ein – einige Menschen fallen auf die Straße und auf ein parkendes Fahrzeug. Im Hintergrund sind nun auch Polizisten in Kampfmontur zu sehen, die von Süden her auf die Menge zulaufen.
Zu diesem Zeitpunkt konzentriert sich die Menschenmenge an drei Stellen: Eine kleinere Gruppe steht südlich am Grenzzaun (1), die meisten versuchen jedoch, an zwei Punkten über die Mauer des Grenzpostens zu klettern (2 und 3). Zugleich rücken von Süden immer mehr Polizisten an:

Zwischen Migranten und marokkanischen Polizisten bricht nun eine regelrechte Straßenschlacht los. Von Seiten der Migranten fliegen Steine auf die Polizisten, diese werfen mit Steinen und Tränengas-Granaten zurück. Die Situation wird zunehmend chaotisch. Später wird es heißen, dass bei dem Vorfall auch zahlreiche Grenzbeamte und Sicherheitskräfte verletzt wurden.

In der Falle
Wie lange es dauert, bis es die ersten Migranten über die Mauer des Grenzpostens geschafft haben, lässt sich nicht sagen. Es dürften wenige Minuten sein. Vom Dach eines Grenzhäuschens aus filmt jemand, was sich danach im Innenhof des Grenzpostens abspielt.

Rechts versuchen Menschen, den Graben und die nächsten Zäune zu überwinden. Links werfen andere Steine auf die marokkanische Seite der Grenze. Unklar ist, wie viele Polizisten sich in diesem Moment bereits im Inneren des Grenzpostens und im Bereich zwischen den Grenzzäunen befinden.
Ein weiteres Video aus dem Innenbereich des Grenzpostens zeigt, wie Migranten versuchen, ein Tor aufzubrechen.
Die Aufnahmen machen vor allem eines deutlich: Der Innenhof des Grenzübergangs ist nur wenige Meter breit und verwinkelt, überall stehen Gatter und Mauern. Auf der einen Seite begrenzen der Graben und die hohen Zäune den Hof, auf der anderen Seite rücken die marokkanischen Polizisten heran. So sammeln sich in dem Grenzposten immer mehr Menschen auf engstem Raum. Es gibt für sie bald kein Vorwärts und kein Zurück mehr. Der Innenhof des Grenzpostens wird für die Migranten zur Falle. Das zeigt ein Ausschnitt aus diesem Video, das auf der marokkanischen Seite der Grenze aufgenommen wurde:

In dieser Situation versuchen offenbar viele Migranten die Flucht nach vorn: über den tiefen Graben und die hohen Zäune auf die spanische Seite. Was genau geschieht, lässt sich anhand der Videos nicht vollständig rekonstruieren. Aber es ist recht wahrscheinlich, dass es diese Minuten sind, in denen die meisten Menschen sterben.
Augenzeugen berichten in spanischen Medien von grausamen Szenen: „Alles war voller Blut, die Köpfe, die Hände, die Beine“, erzählt ein Anwohner aus der Provinz Nador der Zeitung El País. Die Migranten seien eingeschlossen worden, viele seien auf diese Weise erstickt oder erdrückt worden. „Wer nicht auf diese Weise starb, der starb durch die Schläge der Polizisten“, berichtet ein anderer Zeuge. Was genau auf der marokkanischen Seite der Grenze passiert ist und ob es tatsächlich zu Gewaltausbrüchen marokkanischer Sicherheitskräfte gekommen ist, lässt sich nicht zweifelsfrei belegen.
Unklar ist auch, wann genau an diesem Tag die folgenden, drastischen Videos entstanden sind, die danach in den sozialen Netzwerken viral gingen. Sie zeigen Dutzende Menschen, zu Boden gedrückt, übereinander liegend, unfähig, sich zu bewegen. Aufgenommen wurden sie im Innenhof des Grenzpostens, jener Falle, die so vielen zum Verhängnis wurde.
Im EU-Parlament heißt es zwei Wochen später, dass die meisten Menschen in einer Massenpanik zu Tode gedrückt oder getrampelt wurden. Einige seien gestorben, als sie von den Zäunen stürzten.
Irgendwann – wie viel Zeit dazwischen genau vergangen ist, ist unklar – kehrt Ruhe ein im Innenhof des Grenzpostens. Es ist eine gespenstische Ruhe. Videos zeigen, wie marokkanische Polizisten Migranten abführen. Der größte Tumult scheint zu diesem Zeitpunkt beendet, niemand wirft mehr mit Steinen. Dennoch gehen die Polizisten mit großer Brutalität gegen die augenscheinlich teils schwer verletzten Migranten vor. Ein Handyvideo zeigt etwa, wie ein Beamter mit einem Knüppel auf einen Mann einschlägt, der reglos am Boden liegt. Ein anderer Polizist tritt nach einem Verhafteten, ein dritter schleudert einen bewegungslosen Mann auf andere, am Boden liegende Menschen.
Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl werfen den Grenzbeamten später eine Eskalation der Gewalt vor, die Gewaltanwendung von Seiten der Polizisten sei in jenen Momenten „völlig außer Kontrolle geraten“, heißt es in einer Stellungnahme. Die Menschenrechtler kritisieren auch ausdrücklich die spanische Regierung, die die Arbeit der Grenzschützer gelobt und so zu einer menschenverachtenden Legitimierung von Gewaltexzessen beigetragen habe.
Jenseits des Zauns
Einigen Migranten gelingt es, der Falle im Grenzposten zu entkommen. Ein paar von ihnen schaffen es sogar, den Graben und die dahinter liegenden Zäune hinter sich zu lassen. Videos von marokkanischer Seite zeigen, wie Migranten auf den äußeren Zäunen herumklettern. Es fliegen Steine und andere Gegenstände.
Und sie belegen: Auf spanischem Territorium stehen ebenfalls Polizisten der “Gendarmerie royale marocaine”, einer Polizeieinheit in Marokko. Eine Tatsache, über die sich auch der erfahrene Fotograf wundert. Üblich ist zwar eine Zusammenarbeit von Beamten auf spanischer und marokkanischer Seite der Grenze – allerdings agieren diese normalerweise nicht auf dem jeweils benachbarten Territorium. Auf Videos, die die spanische Zeitung Público veröffentlicht hat, ist zu sehen, wie marokkanische Polizisten auf spanischer Seite Migranten abführen und diese zurück nach Marokko bringen.
Konfrontiert mit dem Vorwurf, dass es hier zu einem illegalen marokkanischen Polizeieinsatz auf spanischem Territorium gekommen sei, streitet der spanische Innenminister Fernando Grande-Marlaska später im spanischen Kongress ab. Es gebe dafür keine Beweise. Die Fotos von Javier Bernardo legen einen anderen Schluss nahe.
Auch die Vorwürfe mehrerer Menschenrechtsorganisationen unter anderem aus Deutschland, dass es in dieser Situation zu illegalen Pushbacks gekommen sein könnte, sind derzeit noch offen und Gegenstand der Untersuchungen, die EU-Kommission und spanische Staatsanwaltschaft zugesagt haben.
Bilanz einer Tragödie
Während sich die Situation auf beiden Seiten der Grenze beruhigt, bringen marokkanische Polizisten verletzte und tote Migranten aus dem Inneren des Grenzpostens nach draußen und legen die Körper dort am Boden ab. Videos zeigen eine große Masse an regungslosen Körpern, viele tragen Blutspuren. Bei den meisten ist nicht zu sagen, ob sie bewusstlos, verletzt oder bereits tot sind. Von manchen hört man leise Klagelaute. Ein Video zeigt, wie ein Polizist einen leblos wirkenden Migranten am Arm zieht und seinen Puls fühlt. Auf einer Aufnahme stehen Polizisten in Kampfmontur im Halbkreis um die Dutzenden am Boden liegenden Migranten herum. Erste Hilfe leistet – zumindest in diesem Video – niemand.
Erst gegen elf Uhr kommen die ersten Rettungswagen an, berichtet ein Mitglied der marokkanischen Menschenrechtsorganisation AMDH später der spanischen Zeitung El País. Es ist möglich, dass die Verletzten mehr als eine Stunde lang nicht medizinisch versorgt wurden. Menschenrechtsorganisationen gehen zudem davon aus, dass in den Krankenhäusern noch weitere Migranten starben. Die in Marokko arbeitende Organisation Caminando Fronteras spricht von mindestens 37 Todesopfern.
Vertretern der Menschenrechtsorganisation AMDH zufolge dauert es neun Stunden, bis der letzte Krankentransport abfährt. Wie viele Menschen an jenem Tag teils schwer verletzt wurden, lässt sich nur schätzen. Offizielle Zahlen vermelden 49 leicht verletzte spanische Grenzbeamte und 57 verletzte Migranten.
134 Menschen schafften es an jenem Tag lebendig über die Grenze nach Melilla, in Richtung des spanischen Auffanglagers in Melilla, wo sie zunächst für mehrere Tage in Quarantäne mussten.
Sie dürfen nun einen Antrag auf Asyl stellen. Fast alle von ihnen stammen aus dem Sudan. Sie können hoffen, dass ihr Asylgesuch wegen der Lage in ihrer Heimat anerkannt wird.
Im EU-Parlament in Straßburg kritisierten in dieser Woche linke Abgeordnete, dass der Vorfall in Melilla kein Einzelfall sei, sondern für ein weit größeres Problem stehe: Für die Migranten gebe es keine legale Möglichkeit, vor Ort um Asyl zu bitten, sagte etwa die spanische Abgeordnete Sira Rego. Und die grüne Abgeordnete Tineke Strik kritisierte, dass die Befestigungsanlagen so ausgebaut seien, dass Migranten den eigentlichen Grenzposten gar nicht erst erreichen würden. Die Grenzen seien de facto verriegelt.
Derweil baut Spanien die Grenzanlagen um die Exklaven in Afrika weiter aus: Geplant ist, dass in Melilla die Zäune noch höher werden sollen, bis zu zehn Meter. Auch mehr Videoüberwachungs- und Wärmebildkameras sollen installiert werden, dazu ein Gesichtserkennungssystem an den Grenzposten. Die Verstärkung der beiden Grenzanlagen dürfte 32,7 Millionen Euro kosten.