Justizreform

Israel taumelt in eine Staatskrise

Zuerst will Premierminister Netanjahu unbedingt an seiner Justizreform festhalten, dann heißt es: Er will sie vorübergehend stoppen. Eine Rekonstruktion dramatischer 72 Stunden.

27. März 2023 - 6 Min. Lesezeit

In Israel nimmt die Diskussion über die Justizreform immer heftigere Formen an. Am Wochenende gehen mehr als eine halbe Million Menschen auf die Straße, Israels Verteidigungsminister wird entlassen, weil er sich dafür ausspricht, die Reform zu stoppen. Dann heißt es am Montag: Die Reform soll vorerst doch nicht kommen, Netanjahu will sich wohl am Nachmittag äußern. Derweil tritt das Land in einen Generalstreik.

Eine Rekonstruktion der vergangenen 72 Stunden, in denen Israel auf dem Weg in eine Staatskrise ist:

Freitagvormittag 

Netanjahu besucht London

Am Freitag schüttelt Benjamin Netanjahu dem britischen Premier Rishi Sunak die Hand. Die beiden treffen sich in London in der Downing Street, offiziell geht es um Iran und das Atomprogramm, um Zusammenarbeit der Geheimdienste. Aber Netanjahu kann in London den Protesten um die Justizreform nicht entkommen: Während er Sunak die Hand gibt, sind im Hintergrund Rufe auf Hebräisch zu hören: „Schande“, rufen Demonstranten, die am Freitag durch London ziehen. Auf einem Plakat steht geschrieben, Netanjahu sei ein „Diktator auf der Flucht“.

Freitagmittag

Generalstaatsanwältin: Netanjahu handelt illegal

In London erreicht den israelischen Premier noch ein Statement aus der Heimat. Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara wirft ihm in einem Brief vor, er habe sich illegaler Weise in die Justiz eingemischt. „Die Rechtslage ist eindeutig: Sie müssen sich aus jeder Initiative zur Änderung des Justizwesens heraushalten, inklusive der Zusammensetzung des Komitees zur Ernennung von Richtern, da dies ein Interessenkonflikt ist“, schreibt sie.

Die geplante Justizreform sieht nicht nur vor, dass das Parlament Entscheidungen des Obersten Gerichts überstimmen kann, künftig soll die Regierung bei der Ernennung von Richtern deutlich mehr Kompetenzen erhalten. Und Netanjahu schneidet das Gesetz noch auf sich selbst zu: Einen Regierungschef abzusetzen, soll nur noch dann möglich sein, wenn er dazu gesundheitlich nicht mehr in der Lage ist. Weil Netanjahu wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit angeklagt ist, sieht die Generalstaatsanwältin eine Einmischung und einen Interessenkonflikt.

Samstagabend

Die Proteste werden heftiger

Im gesamten Land gehen die Demonstrationen weiter: Medienberichten und den Veranstaltern zufolge sind mehr als 630 000 Menschen auf den Straßen, allein in Tel Aviv sollen es knapp 200 000 sein. Zur Einordnung: In Israel leben etwa 9,3 Millionen Menschen. Teilweise kommt es zu Ausschreitungen und Zusammenstößen, die Polizei setzt Wasserwerfer gegen Demonstranten ein, die Autobahnen blockieren.

Samstagabend

Der Verteidigungsminister äußert sich

Während die Straßen voller Menschen sind, tritt völlig überraschend Israels Verteidigungsminister vor die Presse. Joav Gallant spricht von „Zorn, Schmerz und Enttäuschung in einer Intensität, wie ich sie noch nie erlebt habe“. Er ruft seine eigene Regierung dazu auf, die Reform zu stoppen, man müsse in einen Dialog treten, sagt er. Er betont, dass er hinter der Reform stehe; die Proteste, aber auch Befehlsverweigerungen in der Armee besorgten ihn. Wenn wegen der Reform weiterhin Soldaten ihren Dienst verweigern würden, sei die Verteidigungsfähigkeit Israels gefährdet. Es gebe viele Bedrohungen für die Sicherheit Israels, er verweist auf den Konflikt mit den Palästinensern und Iran.

Kurz darauf ruft Israels Polizeiminister Itamar Ben-Gvir von der rechtsextremen Regierungspartei Otzma Jehudit Premier Netanjahu dazu auf, Gallant zu entlassen.

Sonntagabend

Netanjahu entlässt Gallant

Der israelische Premier kommt dieser Forderung nach. Netanjahu wirft seinen Verteidigungsminister raus. Ein Zeichen, das man zu diesem Zeitpunkt nur so deuten kann: Netanjahu will seine Reform durchsetzen, und zwar auch gegen Widerstand aus der eigenen Partei.

Sonntagabend

Spontane Proteste nach der Entlassung

Die Entscheidung des Regierungschefs sorgt für Wut in der Bevölkerung. In Tel Aviv kommen noch am Abend Zehntausende Menschen zusammen, blockieren die zentrale Straße nach Jerusalem und durchbrechen selbst Absperrungen neben dem Wohnhaus Netanjahus. Ob er zu dem Zeitpunkt zu Hause ist, ist unklar. Derweil stehen auch Hunderte Menschen vor dem Wohnhaus von Joav Gallant: Sie wollen ihre Solidarität zeigen.

Sonntagnacht

Netanjahu berät sich

Netanjahu mit Bildungsminister Joav Kisch.
Netanjahu mit Bildungsminister Joav Kisch.

Während sich die Lage zuspitzt, kommt Netanjahu mit mehreren Kabinettsmitgliedern für Beratungen zusammen. Der Jerusalem Post zufolge sind Justizminister Jariv Levin, Finanzminister Bezalel Smotrich, Bildungsminister Joav Kisch und der für strategische Fragen zuständige Minister Ron Dermer dabei. Kisch und Dermer, heißt es später, sollen sich dafür ausgesprochen haben, die Reform zu stoppen. Levin verknüpft die Reform mit seiner politischen Karriere: Kommt sie nicht, wolle er zurücktreten.

Montagmorgen

Israels Präsident schaltet sich ein

Israel befindet sich in einer schweren Regierungskrise, es sind dramatische Stunden. Präsident Isaac Herzog wendet sich am Montagmorgen an die Öffentlichkeit – und wird deutlich. Er fordert die Regierung auf, die Justizreform zu stoppen. „Heute Nacht haben wir einige sehr schwierige Szenen erlebt“, schreibt er bei Twitter. „Ich wende mich an den Premierminister, die Regierung und die Mitglieder der Koalition: Die Emotionen sind schwierig und schmerzhaft. Die Menschen sind von tiefer Angst ergriffen. Die Sicherheit, die Wirtschaft, die Gesellschaft - alles ist bedroht. Die Augen des ganzen Volkes von Israel sind auf Sie gerichtet. Die Augen der ganzen Welt sind auf Sie gerichtet.“

Derweil droht Polizeiminister Ben-Gvir damit, die Regierung zu verlassen, falls die Reform nicht auf den Weg gebracht werde. „Wir dürfen nicht der Anarchie nachgeben“, schreibt er bei Twitter.

Montagmorgen

Die Justizreform nimmt eine weitere Hürde

Der Justizausschuss des Parlaments winkt einen Gesetzestext durch, in dem es um die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses geht, und überweist es ans Plenum zur finalen Lesung. Auf dem Höhepunkt der Krise um das Gesetz nimmt ein zentrales Element der Reform eine weitere Hürde.

Montagmorgen

Netanjahu will die Reform offenbar stoppen

Quasi zur gleichen Zeit berichten mehrere Medien, dass sich Netanjahu am Montag zu der Reform äußern will. Angeblich wolle er das Projekt vorerst stoppen. Zuerst heißt es, er wolle am Vormittag sprechen, dann wird seine Rede auf den Nachmittag verschoben. Am Morgen sind erneut Demonstranten unterwegs, Dutzende stehen vor dem Parlament in Jerusalem.

Montag

Israels Gewerkschaften treten in den Generalstreik

Von den Medienberichten zum möglichen Stopp der Reform lassen sich die Gegner der Reform nicht abhalten. Die Proteste erreichen einen neuen Höhepunkt: Der Dachverband der Gewerkschaften ruft zu einem „historischen“ Arbeitsstreik auf, um „den Wahnsinn“ zu stoppen. Der internationale Flughafen Ben-Gurion bei Tel Aviv ist dicht, die Ärztegewerkschaft will das Gesundheitswesen einfrieren, bis die Reform gestoppt ist. Auch die Universitäten und der öffentliche Dienst schließen sich dem Streik an.

Derweil organisieren sich die Demonstranten für weitere Proteste. Landesweit werden Busse organisiert, um Menschen nach Jerusalem zu bringen, wo vor dem Parlament demonstriert werden soll. Am späten Nachmittag haben sich schon mehr als hunderttausend Demonstranten vor der Knesset versammelt.

Polizeiminister Ben-Gvir ruft zu Gegendemonstrationen auf: "Heute erwacht die Rechte", schreibt er auf Twitter.

Montagabend

Israels Regierung verschiebt umstrittene Justizreform

Nach langem Warten ist es dann soweit: Benjamin Netanjahu stellt sich vor die Fernsehkameras in Jerusalem und erklärt den vorübergehenden Stopp der umstrittenen Justizreform. "Ich habe entschieden, die zweite und dritte Lesung in dieser Sitzungsperiode auszusetzen", sagt Netanjahu. Damit wird das Gesetzesvorhaben frühestens Ende April im Parlament zur Abstimmung vorgelegt. 

Team
Text Leopold Zaak, Sina-Maria Schweikle, dpa
Bildredaktion Daniel Hofer
Digitales Storytelling Elisa von Grafenstein