Digitale Trends

Was Lessing wohl heute sagen würde

Lassen sich die Abonnenten ihre Zeitung bald nur noch vorlesen? Was macht maschinelles Lernen mit dem Journalismus? Und wann ist die SZ auf Tiktok? Chefredakteurin Judith Wittwer über digitale Trends – und das, was die „Süddeutsche Zeitung“ auch in Zukunft zu etwas Besonderem macht.

5. Oktober 2022 - 5 Min. Lesezeit

„Schreibe, wie du redest, so schreibst du schön.“ Gute Geschichten, das wusste schon Lessing, haben eine Melodie. Ihre Sätze folgen einem Sprachfluss, der sich am Mündlichen orientiert. Der Inhalt ist die Botschaft, spätestens beim Vortragen aber spürt man, ob sie auch ankommt.

Lessing würde heute wohl nur noch reden. Das Schreiben hätte er an die digitale Sprachassistentin Siri delegiert, eine künstliche Intelligenz, die ihr Wissen aus Milliarden Daten zieht. Smarte Technologien erkennen Stimmen und Sprachen und übersetzen ins Schriftliche. Der moderne Schriftsteller braucht weder Feder noch Tastatur, um schön zu schreiben.

Datentechnologien verändern auch gerade die Zeitungsredaktionen. Recherche-Algorithmen, Robotertexte, Vorlesebuttons: Die Medienhäuser experimentieren weltweit mit maschinellem Lernen und vielversprechenden Tools. Die schlauen Softwareprogramme werden die Journalistinnen und Journalisten nicht ersetzen. Sie ermöglichen ihnen aber bisher ungeahnte Rechercheansätze und Erzählformen – und nehmen ihnen zeitraubende und langweilige Arbeiten ab. Interviews zum Beispiel werden in den Redaktionen immer häufiger mithilfe einer automatischen Spracherkennung verschriftlicht. Die Journalisten müssen den transkribierten Text am Bildschirm nur noch redigieren und auf die passende Länge kürzen.

Recherchen aus dem All

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine gewinnt Datentechnologie auch bei der Verifikation von Bildmaterial im Internet nochmals an Bedeutung. Raketeneinschläge, Truppenbewegungen, zerstörte Häuser, Verletzte und Tote: Wie stellt eine Redaktion sicher, dass die Handyfotos und Filme wirklich das abbilden, was die Übermittler angeben? „Open Source Intelligence“ versucht, alle öffentlich im Netz zugänglichen Quellen zu finden, die Aufnahmen zu verorten und systematisch zu analysieren. Dabei stützt sie sich auch auf Satellitenbilder und Online-Kartenanbieter wie Google Maps. Mithilfe von Auswertungen des Datenspezialisten Masae Analytics und Satellitenfotos von Planet Labs PBC machte die Süddeutsche Zeitung etwa die brutale Zerstörung der ehemals florierenden Hafenstadt Mariupol sichtbar. Die Bilder aus dem All bildeten den Ausgangspunkt der Recherche.

Immerhin: Schön schreiben können die Maschinen nicht. Wo bleibt all das, was der SZ eigen ist und sie auch in Zukunft unverwechselbar machen wird? Die Lust an der Sprache? Das Heitere? Die Ironie?

Textroboter schaffen es bislang nur, standardisierte, kurze Meldungen zu verfassen, Nachrichten zu Sportresultaten oder Landtagswahlen zum Beispiel. Das macht den Algorithmen-Journalismus nicht weniger interessant. Der interaktive Klimarechner des SZ-Datenteams etwa, der per Knopfdruck kleine Texte zur Wetterentwicklung in mehr als 400 Regionen in Deutschland erstellt, begeistert viele Nutzerinnen und Nutzer. Noch kostet es die Datenjournalisten aber große Energie, solche Tools überhaupt zu programmieren; das Zusammenfügen von Textbausteinen nach syntaktischen Regeln bleibt vorderhand eine Nische. Am Selbstverständnis der SZ als Autorenzeitung wird Smart Journalism sowieso nichts ändern.

Gedruckte Zeitungen wird es noch lange geben

Grundlegend verändern wird sich aber, wie die Abonnentinnen und Abonnenten diesen Journalismus nutzen. Schon heute scrollen die SZ-Leser mehr als sie blättern; bald werden zwei von drei Abonnenten die SZ digital lesen. Die gedruckte Zeitung, glücklicherweise auch die Süddeutsche, gehört aber zum Leben vieler Menschen. Sie möchten sie auch in Zukunft als Begleiterin durch den Alltag nicht missen; das ist ein Geschenk, journalistisch und ökonomisch. Solange es die Leserinnen und Leser wollen, wird es deshalb Tageszeitungen und Wochenblätter auf Papier geben, auch wenn überall die Anzeigen einbrechen und die Produktionskosten, nicht zuletzt wegen der Gaskrise, in immer neue Höhen klettern.

Die Generation Z, also die 18- bis 24-Jährigen, die sich nicht an eine Zeit ohne Smartphone erinnern können, lesen Nachrichten am liebsten weder in der Zeitung noch in der News-App. Sie informieren sich bevorzugt über soziale Netzwerke wie Instagram oder Tiktok. Das geht aus dem aktuellen „Digital News Report“ des Reuters Instituts in Oxford hervor; Institutsdirektor Rasmus Kleis Nielson hält nicht ohne Sorge fest, dass die Bindung der Post-Millennials zu den traditionellen Medienmarken abnimmt.

Eine gute Beziehung ist eine feine Sache, im besten Fall verlassen sich die Leserinnen und Leser darauf, dass ihnen die SZ nicht nur Nachrichten liefert, sondern sich auch um deren Einordnung bemüht und sich ihre Artikel zuweilen auch ganz unterhaltsam lesen. Wo dieses Vertrauen beginnt, ist dabei nicht so wichtig. Mehr als die Hälfte der neuen Digital-Abonnenten stoßen inzwischen über Newsletter, Google und soziale Netzwerke zur SZ; jüngere Interessierte erreicht die Süddeutsche dabei oft über Instagram. Die Foto-Kacheln des sozialen Netzwerks bilden die Brücke zu den SZ-Artikeln, die auf der Webseite oder in der Nachrichten-App zu lesen sind. Immer häufiger postet die Redaktion auf Instagram auch kurze Erklärvideos, sogenannte Reels. Einen eigenen Kanal auf Tiktok, der sich am schnellsten verbreitenden Video-Sharing-App der Welt, führt die Süddeutsche bislang nicht, auch weil bei dem aus Peking gesteuerten Konzern letztlich unklar bleibt, wer Zugriff auf die Daten hat.

Ob am Ende der Drang, dabei zu sein, stärker ist als die Bedenken? Möglich. Sicher ist: Tiktok ist ein weiterer digitaler Trend, der auch die klassischen Medien nicht kalt lässt. Weit mehr Energie und Geld stecken die Verlagshäuser aber momentan in Podcasts. Jeder dritte Bundesbürger hört sich inzwischen solche Audioformate an, wie aus der ARD/ZDF-Onlinestudie hervorgeht; auch die SZ baut ihr Angebot deshalb laufend aus. Der Nachrichtenpodcast „Auf den Punkt“ wird zum Beispiel ab Mitte November auch am Samstag erscheinen, mit mehrteiligen Eigenproduktionen wie „71 Schüsse“ über das Leben eines Redakteurs dieser Zeitung nach dem Amoklauf von Erfurt erreicht die Süddeutsche überdies ein neues Publikum.

Die SZ bleibt auch etwas Besonderes, wenn man sie hört, so lassen sich immer mehr Abonnentinnen und Abonnenten die großen Reportagen und investigativen Recherchen auf der Webseite oder in der Nachrichten-App zuweilen auch vorlesen. „Höre so, wie du liest, so hörst du schön“, würde Aufklärer Lessing dazu vielleicht heute sagen. Seinen „Nathan der Weise“ gibt es schon lange als Hörbuch.