Rechter Terror

„Wir haben damals in einer ständigen Angst gelebt“

Vor 30 Jahren wurden bei einem rechtsextremen Brandanschlag in Solingen fünf Menschen ermordet. Türkan Kocaman verlor damals ihre beste Freundin. Sie und andere erzählen, wie der Anschlag die türkeistämmige Community bis heute prägt.

Protokolle von Atahan Demirel, Solingen
27. Mai 2023 - 9 Min. Lesezeit

Fünf Menschen wurden bei dem rechtsextremen Brandanschlag in Solingen am 29. Mai 1993 ermordet: Gürsün İnce (27), Hatice Genç (19), Gülüstan Öztürk (12), Hülya Genç (9) und Saime Genç (4). Eine Gruppe junger Männer hatte in der Nacht das Zweifamilienhaus der Familie Genç in Brand gesteckt. 17 Menschen erlitten zum Teil bleibende Verletzungen. Der Anschlag jährt sich dieses Jahr zum 30. Mal.

Unser Autor hat sich in Solingen mit Menschen aus der türkeistämmigen Community getroffen und mit ihnen über den Anschlag und dessen Nachwirkungen gesprochen. 

Türkan Kocaman war 21 Jahre alt, als sie bei dem Anschlag ihre beste Freundin Hatice verlor. Ihre Familie war eng mit der Überlebenden Mevlüde Genç befreundet, die 2022 verstarb. Bei dem Anschlag verlor Mevlüde Genç zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte. Die Zeit danach beschreibt Türkan Kocaman als düster, angsterfüllt, unsicher. Heute arbeitet sie als Pflegekraft in Solingen.

Derya Gür-Şeker war zwölf, als sie kurz nach dem Terroranschlag in ihr Tagebuch schrieb, dass sie nicht wisse, ob sie noch weiter in Deutschland leben möchte. Jetzt beschäftigt sie sich wissenschaftlich mit der Kraft und Macht von Sprache – und deren Auswirkungen auf Politik. Sie ist eine der Autor:innen des Buches „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag“.

Merve Şahin-Yılmaz war 1993 noch gar nicht geboren. Der Anschlag und seine Folgen begleiten sie dennoch schon ihr ganzes Leben lang. Heute engagiert sich die 27-Jährige in Solingen gegen Rassismus und hat eine Gruppe für BiPoC gegründet.

„Wir haben damals in einer ständigen Angst gelebt, die auch heute noch nicht vollkommen weg ist.“

Türkan Kocaman war eng mit Hatice Genç befreundet 

„Wir haben damals in einer ständigen Angst gelebt, die auch heute noch nicht vollkommen weg ist.“

Türkan Kocaman war eng mit Hatice Genç befreundet 

Ein sonniger Tag im Mai. Türkan lächelt vorbeigehende Passant:innen an, während sie sich auf die Holzbank setzt. Unter ihrem eleganten beigen Mantel trägt sie ihre Arbeitskleidung. Hin und wieder kommt ein neongelber Kasack zum Vorschein, wenn das Revers ihres Mantels verrutscht. Dann blickt sie mit ernster Miene nach unten.

„Vor dreißig Jahren habe ich meine beste Freundin verloren. Hatice Genç war damals 19 und nur zwei Jahre jünger als ich. Sie könnte heute genauso wie ich eine Familie haben. Auf unseren Altersunterschied hatte mich auch ihre Mutter, Mevlüde Genç, immer wieder angesprochen. Sie war eine enge Freundin meiner Familie. Ich sah sie sehr oft, und jedes Mal, wenn ich wir uns begegneten, behandelte sie mich wie ihre eigene Tochter. Sie war eine extrem starke Frau. Doch der Verlust ihrer Kinder war für sie natürlich schwierig.

Auch für mich war es sehr hart. Meine Freundin Hatice war lebensfroh, sie hatte viele Ziele. Sie wollte studieren, ihren Führerschein machen und mit ihrem Verlobten eine Familie gründen. Heute noch denke ich oft an sie.

Nach diesem gewaltvollen Anschlag hatte ich grauenvolle Albträume. Die Erfahrung war für mich extrem traumatisch. Immer wieder fürchtete ich mich davor, auch Opfer eines rassistischen und rechtsextremen Attentats zu werden. Wir haben damals in einer ständigen Angst gelebt, die auch heute noch nicht vollkommen weg ist. Zu der Zeit haben wir unser Haus nicht so oft verlassen. Meine Kinder haben wir immer mit dem Auto gefahren. Diese Angst und Unsicherheit sind erst nach dem Anschlag entstanden. Davor hatten wir uns hier in Solingen eigentlich wohl und sicher gefühlt.

Was viele nicht wissen: Nach dem Brandanschlag wurden weitere Häuser von türkeistämmigen Menschen hier in Solingen angezündet. Glücklicherweise konnte das Feuer jedes Mal gelöscht werden, bevor ein größeres Unglück geschehen konnte.

Nach dem Attentat ging es allen türkeistämmigen Menschen hier schlecht. Die Stimmung war düster und angeschlagen. Viele migrantische Menschen habe aus Frust randaliert, weil sie ihre Wut zum Ausdruck bringen wollten. Natürlich ist Vandalismus nicht der richtige Weg, doch sie fühlten sich von der Stadtgesellschaft im Stich gelassen. Sie waren nicht nur sauer auf die Rassist:innen und Rechtsextremist:innen, sondern auch auf die Sicherheitskräfte und die Feuerwehr. Die Hilfe kam viel zu spät. Wären die Einsatzkräfte etwas früher gekommen, hätten die Menschen vielleicht noch gerettet werden können.

Besonders in den Monaten und Jahren nach dem Anschlag versuchten meine Mutter und ich, Mevlüde Genç zur Seite zu stehen. Wir kannten uns von der Moscheegemeinde. Auch alle anderen Mitglieder der Community unterstützten sie, so gut es ging. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass der Schmerz von Mevlüde Genç und ihrer Familie durch die Solidarität und Hilfe der Community etwas gelindert wurde.“

Gedenken in Solingen: Wenige Tage vor dem 30. Jahrestag des Anschlags liegen Rosen auf einer Gedenktafel.
Gedenken in Solingen: Wenige Tage vor dem 30. Jahrestag des Anschlags liegen Rosen auf einer Gedenktafel.

Jedes Jahr zu dieser Zeit kommen die schlimmen Erinnerungen besonders stark zurück und machen mich traurig. An dem Jahrestag des Brandanschlags werde ich wie jedes Jahr mit meiner Familie an der Trauerveranstaltung teilnehmen, um der Opfer und vor allem Hatice zu gedenken.

Dabei ärgert es mich extrem, dass neben der Gedenkveranstaltung irgendwo in der Innenstadt rechtsextremistische und rassistische Gruppierungen parallel eine eigene Gegenveranstaltung organisieren. Das ist Schikane und Boshaftigkeit. Doch wir werden uns davon nicht unterkriegen lassen. Trotz des Hasses werden wir in Solingen für Akzeptanz und Toleranz einstehen.“

„Damals war für mich nicht klar, ob ich weiterhin in Deutschland leben kann.“

Derya Gür-Şeker ist Medien- und Diskurslinguistin und Co-Autorin des Sammelbands „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag“. Sie forscht und lehrt an der Universität Duisburg-Essen.

„Damals war für mich nicht klar, ob ich weiterhin in Deutschland leben kann.“

Derya Gür-Şeker ist Medien- und Diskurslinguistin und Co-Autorin des Sammelbands „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag“. Sie forscht und lehrt an der Universität Duisburg-Essen.

Ein massiver Mahagoni-Schreibtisch. Dahinter ein deckenhohes Regal voll mit Büchern. In ihrem Arbeitszimmer verbringt Derya viel Zeit, um ihrer Forschung nachzugehen. Sie dreht sich auf ihrem schwarzen Drehsessel und geht zum Bücherregal. Zielgenau nimmt sie ein Buch, blättert kurz darin und legt es auf den Tisch. Der Titel: „Solingen, 30 Jahre nach dem Brandanschlag“.

„Bei dem Anschlag in Solingen war ich zwölf. Und damals, als zwölfjähriges Kind, habe ich zum ersten Mal gemerkt, dass ich anders bin und nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehöre. Vor Kurzem habe ich meinen Tagebucheintrag von damals wiedergelesen. Da habe ich realisiert, dass mich der Anschlag traumatisiert hat. Damals war für mich nicht klar, ob ich weiterhin in Deutschland leben kann. Es war für mich die erste Erfahrung mit Rassismus. Sie hat mich natürlich geprägt. Auch meinen Eltern ging es nicht gut, doch sie sprachen in meiner Gegenwart nie darüber. Sie wollten mich schützen. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass jemals eine Lehrkraft mit uns über den Anschlag gesprochen hat. Das wäre heute unvorstellbar. Dafür versuche ich jetzt mit meinen eigenen Kindern offen über Rassismus zu reden und sie aufzuklären. Der Jahrestag des rassistischen Anschlags in Solingen ist für mich ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag der Solidarität mit Betroffenen rechter Gewalt. Das sollen meine Kinder ruhig lernen.

Als Forscherin befasse ich mich insbesondere mit Sprache und damit, welche Bedeutung diese für den Anschlag in Solingen hatte. Als menschliche Wesen ordnen wir die Welt durch Sprache. Sie ist überaus bedeutsam für unser gesellschaftliches Gefüge, für unser Zusammenleben. Sprache kann auch ausgrenzend wirken, durch bestimmte Bezeichnungen und Worte. Dem Anschlag in Solingen ging ein gesellschaftliches Klima voraus, das stark an die Migrationspolitik der 80er und 90er Jahre gekoppelt war. Rassistische Narrative wurden auch von Politiker:innen genutzt. Das hat den Nährboden für rassistische Gewalttaten geschaffen. 

Und auch nach dem Anschlag ist vieles schief gelaufen: Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl beispielsweise hat nicht dazu beigetragen, dass sich das Klima verbessert hat. Er blieb der Trauerveranstaltung in Solingen fern. Die Debatte damals war geprägt von dem Wort „Beileidstourismus“. Das war furchtbar. Den Begriff „Tourismus“ assoziieren viele mit Entspannung oder Urlaub. So wurde auf perfide Art und Weise der eigentliche Sachstand, nämlich die Trauer über ermordete Menschen, ausgeblendet. Etwas Ähnliches ist passiert, als Friedrich Merz den Begriff „Sozialtourismus“ benutzt hat. Auch hier sind das Leid und die Not der Betroffenen in den Hintergrund gerückt.

Auch in den Medien wurde damals eine ausgrenzende und rassistische Sprache verwendet. Der Familie Genç wurde vorgeworfen, dass sie aus finanziellen Gründen ihr eigenes Haus angezündet hätte, um Geld von der Versicherung zu bekommen: eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. Das ist auch später wieder passiert: Nach den NSU-Morden wurden Betroffene irreführend lange als Kriminelle behandelt, die Morde als „Dönermorde“ bezeichnet. Dadurch wurden Perspektiven verzerrt und verschoben. Aus den Opfern wurden durch die Sprache zu Unrecht die Täter.

Damit sich Solingen nicht wiederholt, müssen sich die Diskurse in Deutschland verändern. Es gibt bestimmte rassistische Muster, die immer wieder auftreten, und gegen die wir kämpfen müssen. Dass sich etwas verändert, macht zum Beispiel die Debatte nach dem rechtsextremen Anschlag in Hanau deutlich: Weil Betroffene sich zu Wort gemeldet haben, entfernte der „Focus“ zum Beispiel das Wort „Shishamorde“ schnell wieder aus seiner Berichterstattung – zu groß war die Kritik.

Gerade über Social Media beteiligten sich viele Betroffene an der Debatte und gestalten sie mit. Betroffene und Aktivist:innen aus Vereinen und Bewegungen nehmen heute mehr Einfluss auf die öffentlichen Debatten. Dadurch entsteht mehr Sensibilität. Diese Entwicklung ist gut, doch sie muss gefördert werden. Mit unserem Buch wollten auch wir einen Beitrag zur Debatte leisten. Als eine der Autor:innen des Sammelbandes bin ich besonders froh darüber, dass wir die Betroffenenperspektiven in den Vordergrund gestellt haben. Wir haben bei den Interviews mit den Betroffenen so gut wie keine redaktionellen Änderungen vorgenommen.“

„Im Grundgesetz steht klar, dass Rassismus verboten ist. Doch die Realität sieht ganz anders aus.“

Merve Şahin-Yılmaz, Co-Gründerin der Initiative „BIPoC Voices Solingen“

„Im Grundgesetz steht klar, dass Rassismus verboten ist. Doch die Realität sieht ganz anders aus.“

Merve Şahin-Yılmaz, Co-Gründerin der Initiative „BIPoC Voices Solingen“

Eine lauwarme Brise weht in die Küche, wo auf einem weißen Tisch zwei volle Teegläser stehen. Vor dem Fenster steht eine Birke, die Blätter rascheln durch den sanften Wind. Für einen Augenblick schaut Merve in Gedanken aus dem Fenster, bevor sie an ihrem Pfefferminztee nippt.

„Schon als ich sehr jung war, wurde mir klar, dass ich mich aktiv für eine Gesellschaft ohne Rassismus und Diskriminierung einsetzen muss. Der rassistische Brandanschlag in Solingen war einer der Gründe dafür. Zwar wurde ich erst Jahre später geboren, doch mit dem Anschlag kam ich schnell in Berührung. In der Schule habe ich zum Beispiel an einem Jahrestag ein Gedicht vorgetragen. Auch im Urlaub in der Türkei wurde ich jedes Mal auf den Anschlag angesprochen, wenn ich erzählt habe, dass ich aus Solingen komme. Einige Betroffene haben sehr schlimme Verletzungen erlitten, andere haben Familienmitglieder verloren. Ich habe gesehen, wie schlimm die Auswirkungen dieses Anschlags auf die Community und Angehörige sind. Auch für mich ist es schwierig. In dieser Stadt wurden Menschen verbrannt, weil sie so sind wie ich. Doch ich will gegen den Hass vorgehen.

Ich will nicht nur aufrichtig an die Opfer des Anschlags erinnern, sondern heutige Missstände aufzeigen. Grundsätzlich merkt man in Solingen schon, dass sich Politik und Verwaltung große Mühe im Bereich Antirassismus-Arbeit geben. Beispielsweise wurden Antirassismus-Workshops angeboten oder Gedenktafeln errichtet. Doch das reicht nicht. Im Grundgesetz steht klar, dass Rassismus verboten ist. Doch die Realität sieht ganz anders aus. Im Supermarkt, in der Behörde, auf der Jobsuche und an vielen weiteren Orten in der Gesellschaft erlebt man als marginalisierte Person Rassismus und Diskriminierung. Für alle Menschen in diesem Einwanderungsland muss eine Gesellschaft geschaffen werden, in der sie diskriminierungsfrei leben können. Meine Zukunft ist in Deutschland, ich wurde hier sozialisiert und sehe dieses Land als meine Heimat an. Doch wegen des alltäglichen Rassismus fällt es mir schwer, mich hier völlig zugehörig zu fühlen. Man bleibt den Augen vieler Menschen immer ,die ausländische Person‘.

Das beginnt mit subtilen Dingen: seltsame Blicke oder Benachteiligungen, die weiß gelesene Menschen nicht erleben. Wegen meiner Identität als junge Frau werden mir meine Erfahrungen oft abgesprochen, weil ich als zu sensibel oder unerfahren betrachtet werde. Gleichzeitig gibt es auch offenkundigen Rassismus: Wenn beispielsweise ein Fahrradfahrer beim Vorbeifahren ,Kopftuchschlampe‘ ruft. Ich trage mein Kopftuch nicht nur aus religiösen Gründen, sondern auch aus feministischen. Als Frau möchte ich mir nicht vorschreiben lassen, was ich zu tragen habe und was nicht. Konservative Feminist:innen, die sich nicht vorstellen können, dass eine Frau auch aus freien Stücken ein Kopftuch tragen kann, müssen anerkennen, dass es auch andere Formen von Feminismus gibt.

Ich kämpfe auch, damit sich Anschläge wie in Solingen nicht wiederholen. Rassistische Gewalt ist ja nur die Spitze des Eisberges, subtile Anfeindungen bleiben oft im Verborgenen. Dabei können genau diese Alltagsrassismen gewaltvolle Attentate befeuern.

Merve engagiert sich in Solingen gegen Rassismus. Dieses Foto mit einem selbst gestalteten Plakat hat sie uns zugeschickt.
Merve engagiert sich in Solingen gegen Rassismus. Dieses Foto mit einem selbst gestalteten Plakat hat sie uns zugeschickt.

Aus diesem Grund habe ich mich mit Gleichgesinnten entschlossen, die Initiative BIPoC Voices Solingen zu gründen. Es braucht Räume, in denen Menschen den Rassismus verarbeiten und sich gegenseitig empowern können. Außerdem klären wir Menschen aus der Dominanzgesellschaft über die Belange und Anliegen von marginalisierten Menschen auf. Zu einer wahrhaften Erinnerungskultur gehört nicht nur die Organisation einer jährliche Trauerveranstaltung, sondern auch die Schaffung von nachhaltigen Strukturen. Der rassistische Anschlag in Solingen sollte im Schulunterricht bearbeitet werden und zivilgesellschaftliche Organisationen, die wichtige Arbeit in dem Bereich leisten, brauchen genug finanzielle Unterstützung. Außerdem sollten Sicherheitskräfte an besonderen Tagen, wie zum Beispiel dem Zuckerfest, für umfangreichen Schutz der Betroffenen sorgen. Leider fühlen sich viele Menschen wegen der rassistischen Anschläge in der Vergangenheit nicht sicher. Bis sich das ändert, wird es noch lange dauern.“

Team
Text Atahan Demirel
Redaktion Sophie Aschenbrenner
Digitales Storytelling Daniela Rudolf-Lübke
Fotos Atahan Demirel, Privat, imago imagesTillmann Pressephot