Süddeutsche Zeitung

Zehn Jahre 9/11:Obama blickt in die Ödnis

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Am Jahrestag von 9/11 hat sich US-Präsident Obama in seiner Lieblingsrolle präsentiert: Er gab den Versöhner zwischen den Lagern und forderte die Amerikaner auf, an die eigene Stärke zu glauben. Doch nun ist die Zeit der noblen Reden vorbei: In der Realität steht Obama miserabel da und muss Hunderttausende Jobs schaffen. Sein Schicksal wird von der Ökonomie bestimmt.

Christian Wernicke

Die Nation hat innegehalten, wenigstens für ein paar Stunden. In einem außergewöhnlichen, weil viel zu seltenen Moment innerer Einheit haben am Sonntag alle Amerikaner ihres Schicksalstages gedacht. Und in ihrer Trauer haben sie sich aufgerichtet an ihrem Präsidenten: Streng, steif und doch sehr würdig hat Barack Obama sein Volk ermutigt, als Lehre von 9/11 und angesichts größter Krisen auf sich selbst zu vertrauen - "auf den Charakter unseres Volkes, auf die Widerstandskraft unserer Nation, auf die Dauerhaftigkeit unserer Werte". Solche Fahnenappelle zu nationaler Konkordanz gehören zum Pflichtkanon eines jeden US-Präsidenten. Nur, bei Obama ist dies mehr. Seine nationale Karriere begann 2004 mit einer flammenden Rede, in der er seine Landsleute mahnte, die elende Kluft zwischen dem roten (republikanischen) und dem blauen (demokratischen) Amerika zu überwinden und sich zu dem zu bekennen, was sie gemeinsam ausmache: "Es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika!" Vermittler über Gräben, Versöhner zwischen Lagern, das möchte Obama am liebsten sein. Das ist seine innere Stärke - und es könnte zugleich seine größte Schwäche sein. Denn nun, am Tag nach dem 11. September, beginnt wieder der Alltag, da verblasst der Schrecken des Terror, da leben die Amerikaner in der Angst um den Job und in banger Furcht vor einer nicht enden wollenden Wirtschaftskrise. Weshalb Obama miserabel dasteht: Weniger Landsleute denn je trauen ihrem Präsidenten noch zu, endlich mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Und weil ihr einstiger Hoffnungsträger obendrein verzagt und führungsschwach wirkte, wandten sich auch viele Anhänger ab. Immerhin, Obama hat mit seiner so cleveren wie feurigen Rede vor dem Kongress vorige Woche neue Hoffnung geweckt. Das war, nach Wochen politischer Agonie, ein Akt der Wiederauferstehung: Der Präsident umwarb die Republikaner, sein bis zur Langeweile pragmatisches Job-Paket setzt sich aus Ideen zusammen, die allesamt irgendwann einmal von der Opposition selbst vorgeschlagen worden waren. Obamas "American Job Act" ist insofern ein Angebot zur Zusammenarbeit, zur Vernunft. Falls die Republikaner diese Offerte ausschlagen, droht ihnen der Präsident den Kampf an: Dann wird er mit seinen Vorschlägen vors Volk treten und die Rechte des Landesverrats zeihen - weil sie statt nach einem nationalen Kompromiss nach parteiischem Gezänk und Konflikt trachtet. Es ist eine Doppelstrategie: Im allerbesten Fall kann sein Job-Plan bis zum Wahltag im November 2012 zwei Millionen Menschen in Arbeit bringen - andernfalls ist es das Programm, mit dessen Hilfe er sich einschießen wird auf die Republikaner. Nicht im Kampf gegen den Terror, sondern an dieser Front wird sich des Präsidenten Schicksal entscheiden: Entweder überwindet Obama die ökonomische wie politische Stagnation - oder die Ödnis bezwingt ihn.

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Quelle:
SZ vom 12.09.2011
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