Süddeutsche Zeitung

Europäische Union:Europa muss umgebaut werden

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Ganz gleich, ob Ursula von der Leyen heute zur Kommissionspräsidentin gewählt wird oder nicht: Es muss sich einiges ändern in der EU. Das Parlament muss endlich zum Kraftzentrum werden.

Kommentar von Stefan Ulrich

Ob es reichen wird? Kurz vor der Entscheidung an diesem Dienstagabend hat Ursula von der Leyen alles aufgeboten, um schwankende Abgeordnete im Europaparlament zu überzeugen, sie zur Kommissionspräsidentin zu wählen. Die erfolgsarme deutsche Verteidigungsministerin (CDU) kündigte den Verzicht auf ihr Ministeramt an - unabhängig vom Ausgang der Wahl. So demonstriert sie, wie ernst sie es mit ihrer Bewerbung meint. Und sie schüttete bei ihrer polyglotten Rede im Europaparlament ein Füllhorn mit Versprechungen über die Abgeordneten aus.

Grüner Deal. Geschlechtergerechtigkeit. Gerechte Besteuerung von Digitalunternehmen. Stärkung der Arbeitnehmerrechte. Flüchtlingsrettung im Mittelmeer. Neues Asylsystem. Harte Kante gegen rechte Europaverächter. Könnte Ursula von der Leyen all dies durchsetzen, die EU würde zu einem (noch) besseren Ort werden.

Doch kann sie es durchsetzen, falls sie gewählt wird? Ein Satz der Kandidatin nährt den Zweifel. "Wir müssen unsere Einheit wiederentdecken." Darin steckt die Erkenntnis: Europas Einheit liegt im Argen. Bei praktisch all den Vorhaben, die die deutsche Politikerin nennt, sind die 28 Mitgliedstaaten zerstritten. Besonders augenfällig ist das bei den Themen Flüchtlingsrettung und Asylsystem.

Auch die Art und Weise, wie von der Leyen vom Rat der Staats- und Regierungschefs nominiert wurde, offenbart die Zerstrittenheit. So konnte sich das Parlament auf keinen der Spitzenkandidaten bei der Europawahl als neuen Kommissionspräsidenten einigen. Das ermöglichte es einer unheiligen Allianz im Rat, den seriösen, moderat-konservativen, in der EU-Politik erfahrenen Spitzenkandidaten der siegreichen Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, zu demontieren; und dann, den ebenfalls gut geeigneten Spitzenkandidaten der Sozialdemokraten, Frans Timmermans, auszuschalten.

Die Mitglieder dieser fatalen Gruppe: Der sonst europafreundlich auftretende französische Präsident Emmanuel Macron einerseits sowie die zum Teil neoautoritären, nationalistischen Regierungen Italiens und der Visegrád-Staaten andererseits.

Ursula von der Leyen muss, falls sie gewählt wird, ihr Amt mit der Hypothek antreten, es entscheidend auch europaskeptischen bis europafeindlichen Kräften zu verdanken. Kein Wunder, dass die deutschen SPD-Abgeordneten - trotz dreisten Drucks aus ihrer eigenen Partei - bis in den Dienstag hinein standhaft bei ihrer Ankündigung blieben, von der Leyen abzulehnen.

Anders als viele Auguren raunen, wäre es keine Katastrophe für Europa, wenn die Kandidatin durchfällt. Dann müssten sich Parlament und Rat zusammensetzen und eine geeignetere Persönlichkeit auswählen. Das wird ihnen angesichts des Problemdrucks in der Welt und in Europa gelingen. Falls von der Leyen jedoch gewählt wird, wäre es ebenfalls kein Desaster. Dann erhält sie die Chance, es als Kommissionschefin besser zu machen denn als Verteidigungsministerin. Und man darf ihr dafür alles Gute wünschen.

Unabhängig vom Ausgang dieser Wahl aber wird immer klarer: Die EU kommt in dieser Verfassung nicht mehr richtig voran. Denn im wichtigsten Machtzentrum, dem Rat der Staats- und Regierungschefs, sitzen Politikerinnen und Politiker, die vor allem ihre nationalen Interessen und heimischen Wähler im Blick haben. Daher einigen sie sich meist nicht auf die besten Lösungen für Europa, sondern nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Und der liegt bei 28 Staaten, siehe Asylpolitik, manchmal bei null.

Wer eine EU will, die die Europäer in einer turbulenten Welt schützt, sollte Macht vom Rat aufs Parlament übertragen. Dieses ist mit seinen staatenübergreifenden Parteienfamilien viel eher in der Lage, das Gemeinwohl Europas zu fördern. Deshalb muss das Europaparlament zum vollwertigen Parlament ausgebaut werden. Es muss Gesetzesinitiativen ergreifen dürfen. Es muss das Recht zur Nominierung des Kommissionspräsidenten erhalten. Und es muss künftig so gewählt werden, dass die Stimmen der Bürger aus den verschiedenen EU-Staaten gleich zählen.

Wer auch immer es wird: Die neue Kommissionschefin oder der neue Kommissionschef sollte dem Europäischen Parlament dabei helfen, so stark zu werden, dass es Europas Bürger erfolgreich vertreten kann.

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