Süddeutsche Zeitung

USA:Politische Schuldzuweisungen nach der Tragödie

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Der Fund Dutzender Toter in einem Lkw in Texas heizt erneut die ideologisch geführte Migrationsdebatte in den USA an.

Von Joshua Beer

Greg Abbott war am eifrigsten. Kurz nach der schauderhaften Entdeckung - die Polizei hatte noch nicht einmal die Medien informiert - schob der texanische Gouverneur auch schon die Verantwortung ab: "Diese Tode gehen auf Joe Biden", twitterte der Republikaner. "Sie sind ein Ergebnis seiner tödlichen Politik der offenen Grenzen."

Mit dieser Beschuldigung des Präsidenten versuchte der Republikaner, eine der schlimmsten Migrationstragödien der jüngeren US-Vergangenheit zu erklären. Ein Arbeiter hatte am Montag am Stadtrand von San Antonio Hilferufe gehört und in einem abgestellten Lastwagen einen grausamen Fund gemacht: Das Fahrzeug war zum Bersten voll mit Menschen, viele davon tot. Mutmaßlich handelte es sich um illegal in die USA eingereiste Migranten. Der nächste Grenzübergang nach Mexiko ist etwa 225 Kilometer entfernt, San Antonio gilt als Durchgangsort für Einwanderer, die weiter ins Landesinnere wollen oder geschmuggelt werden.

46 Leichen hat die Polizei bisher geborgen, mehr als 15 Menschen wurden in nahegelegene Krankenhäuser gebracht, US-Medien berichten von insgesamt 50 Toten. Die Menschen litten an Hitzeschlägen und waren dehydriert, wie der Chef der örtlichen Feuerwehr mitteilte. Am Montag war es in San Antonio bis zu 40 Grad heiß, das könnte viele der hilflos Eingeschlossenen getötet haben, noch aber ist die Ursache nicht eindeutig geklärt. Das Ministerium für Innere Sicherheit hat mit anderen Behörden die Ermittlungen aufgenommen. Sie fahnden vor allem nach dem Fahrer des Lkw, der die Menschen offenbar ihrem Schicksal überlassen hat. Laut Polizeichef sind drei Verdächtige festgenommen worden. Ob der Fahrer darunter ist, blieb offen. Die Polizei sucht zudem nach weiteren Überlebenden am Tatort.

Die Tragödie trifft die USA in einer Phase, in der mehr illegale Grenzübertritte registriert werden als je zuvor seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2000: Im Mai zählte die Zoll- und Grenzschutzbehörde an der Grenze zu Mexiko 239 418 "Encounters", also Begegnungen mit Eingereisten, die dann entweder inhaftiert oder zurückgeschickt werden. Schon seit drei Monaten liegt die Zahl bei mehr als 200 000, 2019 waren es nur halb so viele.

Migration ist ein zentrales Wahlkampfthema

Der rasante Anstieg hat politische Sprengkraft, denn die Republikaner geben stets den Demokraten um Präsident Biden die Schuld. Neben den Themen Abtreibung und Waffenrecht spaltet auch die Migrationsfrage das Land: Republikaner verlangen strikte Grenzkontrollen oder gleich die lückenlose Schließung, Demokraten stehen für eine offenere Einwanderungspolitik. Beide Parteien mobilisieren damit ihre Kernwählerschichten.

So ist auch der eilige Tweet von Greg Abbott zu verstehen. Im November will der Texaner für eine dritte Amtszeit als Gouverneur wiedergewählt werden, Migration ist sein zentrales Wahlkampfthema. Er gibt sich hart und kompromisslos, hat bereits Milliarden Dollar in die lokale Grenzsicherheit gepumpt und als Antwort auf Bidens angeblich lasche Migrationspolitik gemeinsam mit Mexiko die Militärmission "Operation Lone Star" ins Leben gerufen. Damit kann er immer wieder die texanische Nationalgarde an die Grenze beordern, um Einwanderer abzuweisen. Im November 2021 schickte er fast 10 000 Soldaten.

Kritikern zufolge geht der aktuelle Anstieg illegaler Grenzübertritte allerdings auf eine Notverordnung der Vorgängerregierung unter Donald Trump zurück. Die hatte im März 2020 angesichts der anrollenden Corona-Pandemie den umstrittenen "Title 42" im US-Gesundheitsgesetz in Kraft gesetzt. Dieser erlaubt Grenzbeamten, Migranten abzuweisen, ohne dass sie um Asyl bitten können. Bidens Regierung führt die Verordnung weiter, ein Aussetzen ist am Widerstand der Republikaner gescheitert. Grenzbeamte haben auf Basis von Title 42 fast zwei Millionen Migranten zurückgeschickt statt sie in Gewahrsam zu nehmen. Dadurch steigt die Zahl der Wiederkehrer: Mehr als ein Viertel der an der Grenze aufgegriffenen Menschen begegnet den Beamten mindestens zweimal. 2019 waren es nur sieben Prozent.

Auch Trumps Plan der "undurchdringlichen" Mauer zu Mexiko, einst sein größtes Wahlversprechen, geht nicht auf: Der Bau liegt vielerorts brach, und da, wo die zehn Meter hohe Stahlwand steht, ist sie für viele überwindbar. Mit dem Unterschied, dass sich nun Menschen bei Stürzen verletzen oder umkommen.

Wie sehr das Thema politisch spaltet, zeigt nicht zuletzt die Reaktion eines Demokraten auf den Abbott-Tweet. Der Texaner Joaquin Castro antwortete dem Gouverneur: "46 Menschen sterben, und Sie gehen direkt zu den rechten Gesprächsthemen über. Wertlos." In Castros Augen müssten die Toten von San Antonio vielmehr daran erinnern, "dass wir einen sicheren, geordneten Weg für Menschen brauchen, um Asyl zu beantragen."

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