Süddeutsche Zeitung

Militärische Lage:Ukraine meldet Erfolge

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Kiew steht noch immer unter Beschuss, doch die russische Armee zieht sich offenbar immer weiter aus der Gegend zurück. Wieder sind Fluchtkorridore in Mariupol geplant.

Von Nicolas Freund

Das Rot wird weniger. Auf all den Karten, die derzeit versuchen, ein möglichst aktuelles Bild des Krieges in der Ukraine zu zeichnen, werden seit einigen Tagen die roten Flächen, die für russische Vorstöße und Eroberungen stehen, langsam, aber stetig etwas kleiner. Kiew sowie Tschernihiw stünden zwar weiter unter Beschuss, und nördlich der Hauptstadt soll es wieder zu schweren Gefechten gekommen sein, wie Bürgermeister Vitali Klitschko mitteilte. Es wurde aber auch gemeldet, ukrainische Streitkräfte hätten in der Region um Kiew, bei Sumy, Cherson und an anderen Orten, erfolgreiche Gegenangriffe durchgeführt, die russische Armee ziehe sich immer weiter aus diesen Gegenden zurück. Auch im Osten des Landes würden russische Angriffe abgewehrt, die Aktivitäten der russischen Luftwaffe im Donbass hätten aber zugenommen. Das teilte der ukrainische Generalstab mit, der britische Militärgeheimdienst bestätigte die meisten Angaben.

Für großes Aufsehen sorgten eine Nachricht sowie Bilder und Videos in sozialen Netzwerken, die einen Angriff auf ein Öllager des staatlichen Unternehmens Rosneft in der russischen Stadt Belgorod zeigen sollen. Laut Russland sind Hubschrauber des ukrainischen Militärs für den Angriff verantwortlich. Der Sekretär des ukrainischen Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Olexij Danilow, sagte dazu: "Aus irgendwelchen Gründen behaupten die, wir waren es. Im Fernsehen erklärte er weiter: "Nach den Informationen, die ich habe, entspricht das nicht der Wahrheit." Es wäre der erste ukrainische Angriff auf russischem Territorium seit Beginn des Krieges. Laut der Nachrichtenagentur Bloomberg wollte Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow nicht kommentieren, warum die Helikopter nicht von der russischen Luftabwehr entdeckt worden waren.

Selenskij hat Mitglieder seines Sicherheitsdienstes entlassen

Neben solchen kleinen, oft unbestätigten militärischen Erfolgsmeldungen gibt es aber auch Hinweise darauf, dass der Zustand der ukrainischen Streitkräfte nicht so gut sein könnte, wie es scheint. Am Freitag wurde bekannt, dass der ukrainische Präsidenten Wolodimir Selenskij zwei hochrangige Mitglieder des Sicherheitsdienstes entlassen hat. Diese seien "Verräter". Details sind nicht bekannt, aber der Vorfall macht deutlich, wie begrenzt das Wissen über die Vorgänge innerhalb der ukrainischen Regierung und der Streitkräfte ist. So weiß man kaum etwas über die Verluste der Ukraine in dem Krieg. Es ist aber davon auszugehen, dass auch die ukrainische Armee mit Nachschubproblemen und geschwächten Streitkräften zu kämpfen hat. Besonders die fast täglichen Forderungen Selenskijs nach Hilfe aus dem Westen könnten ein Hinweis sein, dass die ukrainische Armee dringend neue Waffen benötigt. Erst am Donnerstag hatte die Ukraine mitgeteilt, die eigene Rüstungsindustrie sei vollständig zerstört worden.

Nun sollen tschechische Panzer aus NVA-Beständen helfen

Die westlichen Lieferungen vor allem von Panzerabwehrwaffen haben wohl einen entscheidenden Beitrag zu den bisherigen Erfolgen der ukrainischen Armee geleistet. Ein großer Teil der gelieferten Waffen scheint aber inzwischen verbraucht zu sein, und auch im Westen leeren sich allmählich die Waffenlager. So hätten die USA bereits mehr als die Hälfte ihrer Javelin -Raketensysteme in die Ukraine geschickt, und die kanadische Verteidigungsministerin Anita Anand teilte schon Mitte März mit, keine weiteren Waffen mehr liefern zu können, ohne die eigene Landesverteidigung zu gefährden. Nötig wäre inzwischen wahrscheinlich ohnehin andere Ausrüstung, denn mit Panzerabwehrwaffen lassen sich keine Gebiete zurückerobern und auch keine Schiffe versenken. Viele der Marschflugkörper, mit denen Russland die Ukraine seit Wochen bombardiert, werden von Schiffen im Schwarzen Meer aus gestartet, und auch an Land ist die russische Artillerie oft für Gegenangriffe nur schwer oder gar nicht erreichbar. So hat am Freitag bereits Australien zugesagt, gepanzerte Fahrzeuge an die Ukraine zu liefern, und auch Deutschland hat den Weiterverkauf von Schützenpanzern aus NVA-Beständen durch Tschechien an die Ukraine genehmigt. Die USA und Großbritannien wollen Waffensysteme zum Schutz vor Marschflugkörpern liefern.

Auch Russland scheint derweil die Unterstützung anderer Nationen zu suchen, zumindest in diplomatischer und wirtschaftlicher Hinsicht. Nach einem Termin in China hat der russische Außenminister Sergej Lawrow am Freitag seinen indischen Kollegen Subrahmanyam Jaishankar getroffen. Russland soll Indien vergünstigtes Öl und andere Waren angeboten haben. Das Land bezieht Waffen aus Russland und möchte weiterhin Öl importieren, wie Finanzministerin Nirmala Sitharaman mitteilte. Lawrow sagte bei dem Treffen außerdem, man wolle eine multipolare, "ausbalancierte Weltordnung". Die westlichen Länder versuchten aber, ihre Ordnung durchsetzen.

Am Freitagnachmittag scheiterte erneut ein Versuch, Menschen aus dem belagerten Mariupol in Sicherheit zu bringen. Ein Konvoi des Internationalen Roten Kreuzes musste offenbar umkehren. Die Lage mache es unmöglich, mit dem Einsatz fortzufahren, hieß es in einer Stellungnahme. In den vergangene Tagen sind wiederholt geplante Feuerpausen für die Flucht von Zivilisten über bestimmte Straßen nicht eingehalten worden. Die humanitäre Lage Mariupols spitzt sich täglich zu, Wasser, Nahrung, geheizte Räume sind kaum noch verfügbar. Laut dem Bürgermeister sind noch 170 000 Menschen in der Stadt. Unklar war am Freitagnachmittag der Fortschritt einer geplanten Evakuierung der belagerten Stadt Mariupol.

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