Süddeutsche Zeitung

Türkei vor der Wahl:Die Opposition rätselt über Güls Rückzieher

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Von Christiane Schlötzer, München

Seine Kandidatur wäre eine Sensation gewesen, aber Abdullah Gül, schon einmal Staatspräsident der Türkei, wird am 24. Juni nicht gegen Recep Tayyip Erdoğan antreten. Gül sagte am Samstag in Istanbul: "Die Frage meiner Kandidatur stellt sich nicht mehr."

Gül, 67, hatte Journalisten zu einer Pressekonferenz in seinen Garten eingeladen, schon dies war ungewöhnlich, der ehemalige Präsident hat sich seit seinem Ausscheiden aus dem Amt 2014 weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. "Nicht einmal zu Hochzeitsfeiern" seiner Freunde sei er gegangen, um politische Spekulationen zu vermeiden, sagte er jetzt.

Trotzdem gab es zuletzt viele, die hofften, der Mitgründer der Regierungspartei AKP könnte sich gegen seinen langjährigen Weggefährten Erdoğan stellen, der mit der vorgezogenen Präsidentenwahl seine Alleinherrschaft für lange Zeit absichern will. Gül hatte diese Hoffnungen selbst befördert, indem er Erdoğans Politik immer wieder kritisierte, bei seinen seltenen Auftritten oder per Twitter. So wandte er sich gegen den langen Ausnahmezustand seit dem Putschversuch im Juli 2016 und gegen das Dekret, das auch allen Zivilisten Straffreiheit zusicherte, die in der Putschnacht Widerstand leisteten, Gewalttaten eingeschlossen. "Ich hoffe, dass das noch einmal überdacht wird", twitterte Gül und nannte den Erlass "besorgniserregend" für einen Rechtsstaat. Erdoğan reagierte wütend, unterstellte Gül, ohne dessen Namen zu nennen, die Sache der Opposition zu betreiben.

Genau das tut Gül nun aber nicht. Er lässt sich nicht darauf ein, für die Opposition aus Kurden, Islamisten, Kemalisten und Nationalisten anzutreten. Deren Parteien konnten sich ohnehin nicht auf ihn als ihren einzigen Präsidentschaftsbewerber einigen. Hätte es einen "breiten Konsens gegeben", so Gül, hätte er nicht gezögert, seine "Pflicht zu tun".

Wie Gül seinen Verzicht nun formulierte, dürfte Erdoğan auch nicht gefallen haben, denn Gül zeigte sich besorgt über das politische und soziale Klima im Land. "Wir sind mehr beschäftigt mit gegenseitigen persönlichen Angriffen und politischem Taktieren anstatt mit dem, was gut ist für die Türkei", sagte er. "In diesem Klima gehen wir zu Wahlen." Gül kritisierte, statt die Chancen der nächsten Generation in den Blick zu nehmen, herrsche Polarisierung und "Stimmungsmache" vor.

Erdoğan sagt, er werde Güls Verzicht nicht bewerten

Fragen der Journalisten ließ Gül nicht zu, nach der Erklärung im Garten seiner Villa verschwand er gleich wieder im Haus. In eben jenem Garten soll am Tag zuvor Generalstabschef Hulusi Akar aufgetaucht sein, gemeinsam mit Erdoğans Sprecher Ibrahim Kalın. Es soll sich um einen Überraschungsbesuch gehandelt haben, offiziell wird das bislang weder bestätigt noch dementiert. Zuerst hatte die Nachrichtenwebseite Habertürk davon berichtet, die der Regierung eigentlich nahesteht. Die Aufsehen erregende Meldung wurde bald wieder von der Seite gelöscht, der Journalist, der sie schrieb, soll gefeuert worden sein. Der Chefredakteur teilte per Twitter mit, er selbst trete aus persönlichen Gründen von seinem Posten zurück.

Zweck des Auftritts der beiden Emissäre sei es gewesen, den womöglich chancenreichen Erdoğan-Rivalen einzuschüchtern und von einer Kandidatur abzuhalten. So sieht es zumindest die größte Oppositionspartei, die CHP. Dies sei ein schwerwiegender Vorgang, "düster für die Demokratie", sagte der Sprecher der CHP, Engin Altay, und erinnerte an frühere Militärinterventionen. Altay sagte, man habe zudem "sichere Informationen", wonach der Generalstabschef mit einem Hubschrauber in Güls Garten gelandet sei. Davor hatte es geheißen, der Besuch sei mit einer Limousine gekommen.

Erdoğan sagte am Sonntag, er werde Güls Verzicht nicht bewerten. Trotz seiner wiederholten Kritik an Erdoğan wurde Gül in Kommentaren häufig als "Zauderer" beschrieben, der die große Kraftprobe mit Erdoğan scheue.

Gül war von 2007 bis 2014 Präsident. 2007 hatte das Militär seinen Aufstieg verhindern wollen, weil die Generäle ihn für einen Islamisten hielten. Nun helfen sie Erdoğan, das Amt zu behalten.

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SZ vom 30.04.2018
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