Süddeutsche Zeitung

Türkisches Verfassungsgericht:Petitions-Unterzeichner zu Unrecht verurteilt

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Von Christiane Schlötzer, Istanbul

Sie wurden zu Hunderten vor Gericht gestellt, verloren ihre Professorenposten, erhielten Ausreiseverbot. Nun hat das türkische Verfassungsgericht entschieden, die Unterzeichner einer Friedenspetition seien zu Unrecht wegen "Terrorpropaganda" verurteilt worden.

Mehr als 2000 türkische Akademiker hatten die Petition mit dem Titel "Wir werden nicht Teil dieses Verbrechens sein" signiert, die Anfang 2016 "kriegsartige Zustände" im Südosten des Landes anprangerte. Der Regierung wurde eine "Vernichtungs- und Vertreibungspolitik" im Konflikt mit der militanten kurdischen PKK vorgeworfen. Seither wurden 204 Unterzeichner zu Haftstrafen verurteilt, Hunderte Fälle sind noch vor Gerichten anhängig.

Zehn der Verurteilten hatten sich an das Verfassungsgericht gewandt. Das entschied nun, ihre Rechte seien verletzt worden. Ihre Prozesse müssen neu aufgerollt werden. Sie erhalten zudem jeweils eine Entschädigung von 9000 Lira (1420 Euro). Außerdem will das Verfassungsgericht Kopien des Urteils an die untergeordneten Instanzen schicken, um künftige Rechtsverletzungen zu vermeiden.

Bei der Entscheidung am Freitagabend gab Gerichtspräsident Zühtü Arslan den Ausschlag, nachdem sich in dem Richtergremium ein Patt von acht zu acht Stimmen abzeichnete, wie mehrere türkische Medien am Sonntag berichteten. Das Verfassungsgericht hatte jüngst erst mit einer anderen Entscheidung Aufsehen erregt. Es hatte entschieden, dass der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel zu Unrecht ein Jahr in Untersuchungshaft saß. Auch er habe nur seine Meinungsfreiheit genutzt.

Die regierungsnahe Zeitung Sabah griff den Gerichtspräsidenten am Wochenende scharf an. Sie warf Arslan eine weitere "Skandal"-Entscheidung vor. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte schon kurz nach der Veröffentlichung der Petition im Januar 2016 die Linie vorgegeben. Er nannte Unterzeichner eine "Handvoll Lumpen", die mit "der Terrorpropaganda" ihre wahren Gesichter gezeigt hätten.

Human Rights Watch begrüßte das Urteil des höchsten türkischen Gerichts und nannte es "überfällig". Nun müssten alle bereits Verurteilten freigesprochen werden, forderte die Menschenrechtsorganisation.

Starke Abwanderung von Akademikern

"Wir haben von Beginn an gesagt, dass wir nur unser Recht auf freie Meinungsäußerung genutzt haben", sagte der Istanbuler Filmemacher Can Candan, "drei Jahre unseres Lebens wurden verschwendet." Der Politologe Ismet Akça, der bereits eine Haftstrafe erhalten hat, wurde von der Webseite bianet mit den Worten zitiert, nun müssten auch die Entlassungen vieler Professoren von staatlichen Universitäten rückgängig gemacht werden.

Die Verfolgung der Akademiker war international auf Kritik gestoßen. Universitäten in Deutschland und anderen EU-Ländern boten einigen der Betroffenen Jobs an. In Aachen erhielten die Petenten den "Friedenspreis", im baden-württembergischen Schorndorf den Preis für Meinungsfreiheit der Palm-Stiftung.

Diese Art Abwanderung aus der Türkei wurde so stark, dass inzwischen auch die Regierung den Verlust von akademischem Personal beklagt. Vor allem Naturwissenschaftlern wurden Rückkehrprämien angeboten.

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SZ vom 29.07.2019
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