Süddeutsche Zeitung

Türkei:Wahlkampf im Gerichtssaal

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In seinem Prozess wegen der Kobane-Proteste setzt der kurdische Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş die Erdoğan-Regierung unter Druck - per Video-Schalte.

Von Tomas Avenarius, Istanbul

Im Zusammenhang mit den sogenannten Kobane-Protesten von 2014 hat in Ankara der Prozess gegen den pro-kurdischen Oppositionspolitiker Selahattin Demirtaş begonnen. Ihm und 107 weiteren Angeklagten wird vorgeworfen, für die gewaltsamen Proteste verantwortlich gewesen zu sein. Die 3000-Seiten-Anklage wirft den Beschuldigten laut dpa "die Zerstörung der Einheit des Staates und Integrität des Landes" sowie 37-fachen Totschlag vor.

Im Zentrum steht der seit vier Jahren ohne Gerichtsurteil inhaftierte Oppositionspolitiker Demirtaş. Er ist der ehemalige Co-Vorsitzende der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP. Neben ihm sind auch seine ebenfalls inhaftierte ehemalige Co-Chefin Figen Yüksekdağ sowie ehemalige HDP-Parlamentarier angeklagt. Die HDP kritisiert das Verfahren als politisch motiviert. Die Regierung hingegen sieht in der HDP den verlängerten Arm der als Terrorgruppe verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Der Kommunikationsdirektor der Regierung, Fahrettin Altun, erklärte: "Heute ist der Tag der Abrechnung für die Mörder."

Bei den Protesten starben Dutzende Menschen

Die Kobane-Proteste im Oktober 2014 in mehreren türkischen Provinzen richteten sich gegen die Belagerung der syrisch-kurdischen Grenzstadt Kobane durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Die HDP hatte damals zu den Demonstrationen aufgerufen. Die Proteste schlugen in Gewalt um, es kam zu Zusammenstößen rivalisierender Gruppen. Mehrere Dutzend Menschen starben. Die Staatsanwaltschaft verlangt für alle Angeklagten mehrfach lebenslänglich unter erschwerten Bedingungen sowie Tausende Jahre Haft.

Auch der Prozess war von Protest geprägt. So verließen die Strafverteidiger mehrmals aus Protest gegen das Vorgehen der Richter den Saal. Demirtaş, der wegen der Corona-Schutzmassnahmen nur per Video an dem Verfahren teilnehmen darf, nutzte seine Verhandlung, offen Oppositionspolitik zu betreiben. Er hielt unerwartet ein Blatt Papier in die Kamera, auf dem stand: "Wo sind die 128 Milliarden Dollar?"

Der Kurden-Politiker griff eine Parole anderer türkischer Oppositionsparteien auf. Diese fordern, dass die Regierung den Verbleib von 128 Milliarden US-Dollar an Währungsreserven erklärt, die genutzt wurden, um die schwächelnde Türkische Lira zu stützen. Die Opposition behauptet, die Nutzung des Geldes sei gesetzeswidrig erfolgt. Sie vermutet, dass zudem Teile des Geldes veruntreut wurden.

Die Frage nach den 128 Milliarden setzte die Erdoğan-Regierung unter Druck. Mit dem Aufgreifen dieser griffigen Oppositionsparole hat Demirtaş seine HDP nun quasi an die Seite der anderen Oppositionsparteien gestellt. Wahlforscher vermuten, dass die HDP-Wähler bei den geplanten Wahlen im Jahr 2023 den Ausschlag geben werden.

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