Süddeutsche Zeitung

Recep Tayyip Erdoğan:Gehasst und geliebt

Lesezeit: 2 Min.

Erst war er ein Reformer, dann wurde er autoritär, aber fast immer war er erfolgreich: Die Journalistin Ciğdem Akyol erklärt die Herrschaft Recep Tayyip Erdoğans.

Von Luisa Seeling

Erdoğans Politik durch seine Vergangenheit geprägt

Dass die AKP bei den türkischen Parlamentswahlen die absolute Mehrheit verloren hat, kam für viele überraschend: Bis dahin galt Staatspräsident Erdoğan als nachgerade unschlagbar.

Warum er es vermochte, Skandale und Proteste zu überstehen und seine Gegner auszuschalten, erklärt die Journalistin Ciğdem Akyol. Sie erzählt eine Aufsteigergeschichte, die in Istanbuls Arbeiter- und Hafenviertel Kasımpaşa beginnt.

Rauh geht es dort zu. Hier verkauft der junge Recep Tayyip Erdoğan Sesamkringel, die Familie hat wenig Geld. Es gibt kaum fließendes Wasser, der Strom fällt regelmäßig aus. Fünfmal am Tag beten die Menschen. "Wer hier wohnte", schreibt Akyol, "war erstens praktizierender Muslim, zweitens arm, drittens wütend."

In dieser knappen Beschreibung findet sich alles, was den späteren Politiker Erdoğan ausmachen wird: seine Religiosität; seine Überzeugung, dass man die Menschen mit Wohlstand locken muss; und seine Wut auf das laizistische System.

Vom Volk gehasst und geliebt

Heute steht Erdoğan an der Spitze des Staates, davor hat er das Land mit seiner konservativ-religiösen Partei AKP mehr als zehn Jahre regiert. Er wird gehasst und geliebt. "Kalt lässt er keinen", schreibt Ciğdem Akyol.

Erdoğans Aufstieg, so die zentrale These des Buches, ist auch ein Produkt der tiefen sozio-kulturellen Spaltung der Türkei. Jahrzehntelang bestimmt die Geschicke des Landes eine "dem Kemalismus verpflichtete Elite, die den Islam strikt aus der Politik heraushalten wollte".

Die frommen Massen, die konservativen Unter- und Mittelschichten haben an der Macht wenig Anteil. Diese "schwarzen Türken" bilden zwar die Bevölkerungsmehrheit, werden aber von den "weißen Türken" verachtet.

Verachtung der Machtelite Erdoğans Antrieb

Die Verachtung ist Erdoğans Antrieb. "Die Menschen hatten genug von dem kleinen Machtzirkel in Politik, Armee und Wirtschaft, der seine Privilegien zur Schau stellte und die Massen ausbeutete - Erdoğans Ehrgeiz flößte ihnen Vertrauen ein", schreibt Akyol.

Der Mann aus Kasımpaşa, "der Sohn eines unterprivilegierten Anatoliers", ist schließlich einer von ihnen.

Als Regierungschef führt Erdoğan die Türkei aus der Rezession und leitet einen beispiellosen Wirtschaftsboom ein.

Er präsentiert das Land als Regionalmacht und verleiht jenen Bevölkerungsschichten Selbstvertrauen, die jahrzehntelang als rückständig abgestempelt worden sind. Und er beginnt, das politische System umzubauen.

Nach breiter Zustimmung folgt autoritäre Wende

Das stößt in Europa zunächst auf Zustimmung, denn der Premier und seine AKP reformieren die Justiz, verdrängen das Militär aus der Politik und treiben die Annäherung an die EU voran. Doch dann folgt die autoritäre Wende.

Erdoğan hat es geschafft und das System besiegt. Nun dominiert er es - und wendet es mit aller Härte gegen seine Gegner. Zu ihnen zählen immer mehr gesellschaftliche Gruppen, von der liberalen Mittelschicht bis zu Anhängern des islamischen Predigers Fethullah Gülen. Lange Zeit ist die Opposition zu zersplittert, um gegen den Berserker aus Kasımpaşa anzukommen.

Realität holt das Werk ein

Wo die Sympathien der Autorin liegen, ist klar: Ausführlich widmet sie sich der Gezi-Bewegung von 2013, die sie als Aufstand der Zivilgesellschaft gegen einen selbstherrlichen Autokraten beschreibt.

Akyol bedauert, dass sich aus den Gezi-Protesten keine nachhaltige zivilgesellschaftliche Opposition entwickelt habe. Und in fast allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere den Medien und der Justiz , würden die Spielräume für Andersdenkende immer kleiner.

Nun hat die Realität das Buch überholt, was die Autorin freuen dürfte: Erdoğans AKP hat bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit auch deshalb verfehlt, weil Zivilgesellschaft und Opposition ein gemeinsames Ziel hatten.

Ciğdem Akyol: Generation Erdoğan. Die Türkei - ein zerrissenes Land im 21. Jahrhundert. Kremayr & Scheriau, Wien 2015. 208 Seiten, 22 Euro.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen für 0,99 € zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2510753
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.06.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.