Süddeutsche Zeitung

Türkei:Erdoğan nutzt alle Mittel für den Machterhalt

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Der türkische Präsident fährt außenpolitische Erfolge ein und ist innenpolitisch omnipräsent. Doch weil seine Umfragewerte nicht gut sind, schaltet er schon jetzt in den Nahkampfmodus.

Kommentar von Tomas Avenarius, Istanbul

Allerbester Laune erfreut sich der türkische Präsident. Mit seiner betont konfrontativen Außenpolitik fährt Recep Tayyip Erdoğan unbestreitbar Erfolge ein. Im libyschen Bürgerkrieg hat er mit dem Einsatz modernster Waffen heimischer Produktion und einer in Syrien angeheuerten Söldnertruppe das Blatt gewendet. Mit zusammengebissenen Zähnen ist sich nun alle Welt einig, dass es ohne Ankaras Plazet keine Lösung geben wird. Auch andernorts macht Erdoğan Punkte. Er hält gegenüber Wladimir Putin seine Stellung in Syrien. Er telefoniert mit Donald Trump und spricht von einer neuen Epoche der türkisch-amerikanischen Beziehungen, was immer das bei dem erratischen Trump bedeutet.

Mit der EU will der Mann in Ankara wieder ins Gespräch kommen, den festgefressenen Beitrittsgesprächen und dem Flüchtlingsabkommen neues Leben einhauchen. Egal, ob er es ernst meint - der Ball liegt jedenfalls bei der EU. Nur bei der Frage, wann die deutschen Urlauberlegionen zurück an die Strände von Antalya und Bodrum strömen, hakt es. Berlin hebt die Reisewarnung nicht auf, mindestens bis Ende August bleibt die Türkei wohl auf der roten Liste. Aber Erdoğan dürfte auch hier gehörig Druck aufbauen, damit in Berlin angestrengt nachgedacht wird. Ein Hinweis: Die Flüchtlingszahlen steigen wieder. Auf einer der wichtigsten Routen bleibt die Türkei der Türsteher. Damit wuchert Ankara gern, es hatte seine Grenze nach Europa im Februar für "offen" erklärt. Eine Provokation - die damals von den Griechen schmerzhaft erlebt wurde.

Auch innenpolitisch bestimmt der Präsident die Show. Er gibt vor Selbstbewusstsein strotzende Fernsehinterviews, referiert auf einer Konferenz über die Vorteile eines zinsfreien Wirtschaftssystems, mit Istanbul als globalem Islamo-Bankenzentrum. In den Zeiten des Corona-Hochs hatte er sich noch aus der Hauptstadt in seine Residenz am Bosporus zurückgezogen, sein erschöpfter Gesundheitsminister gab Tag für Tag die Covid-19-Zahlen durch, der Präsident hielt sich am Rand. Jetzt ist er wieder omnipräsent.

Warum Erdoğan die Hagia Sophia für den Wahlkampf nutzt

Das Einzige, was nicht stimmt, sind die Umfragewerte. Derzeit würde Erdoğans AKP mit ihrem ultra-nationalistischen Koalitionspartner MHP im Parlament keine Mehrheit finden. Nun sind Umfragen Momentaufnahmen. Aber trotz fast zwanzig Jahren an der Macht - erst als Premier, dann als Präsident - kann sich der ausge-buffte Machtpolitiker nicht mehr so sicher sein. Die Wirtschaft entscheidet auch in der Türkei, sie lahmt, Covid-19 macht alles noch schlimmer. Und rasche Besserung ist kaum in Sicht, siehe Tourismus.

Die Erdoğan-Müdigkeit ist zudem keine neue Entwicklung. Die Wahlsiege der Opposition in den Großstädten Istanbul, Ankara und Izmir 2019 waren Indikatoren. Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stehen zwar erst 2023 an, aber als instinktsicherer Politiker schaltet der Präsident schon jetzt in den Nahkampfmodus. Er stiftet gezielt Verwirrung in den Reihen der Opposition, provoziert auch hier. Ein Beispiel ist die aufflammende Debatte darüber, ob die Hagia Sofia in eine Moschee umgewandelt werden soll. Das byzantinische Gotteshaus war bis zur Eroberung Konstantinopels die wichtigste Kirche der damals bekannten Welt, 1453 wandelte sie der siegreiche Osmanen-Sultan in eine Moschee um. Nach dem Untergang des Reichs übernahm Republikgründer Atatürk, zog einen Strich unter alles Religiöse und machte die Hagia Sophia zum Museum.

Für Erdoğans Gegner ist es schwierig, Bündnisse zu schmieden

Warum sollte das geändert werden? Weil Erdoğan handhabbare Krisen braucht. Mit der Hagia-Sophia mobilisiert er seine Stammwähler, die Islamisten. Diese sind nicht die größte Unterstützergruppe, aber wichtig. Ob die Hagia Sophia erneut zur Moschee wird - erst einmal steht am 2. Juli ein Gerichtsurteil an - ist nicht allentscheidend. Hauptsache, der Präsident füttert seine Unterstützer an. Und reizt seine Gegner, Fehler zu machen. Genau dasselbe Muster verfolgt er bei der Debatte um vorgezogene Neuwahlen, der möglichen Änderung des Wahlrechts. Zudem werden weiter Abgeordnete und Journalisten angeklagt, Militärs und Polizeioffiziere als angebliche Putschisten abgeführt. Jetzt wurde eine bewaffnete Laienpolizei eingeführt - wofür eigentlich?

Die Opposition wirkt bei all dem hilflos. Neben den enormen Machtbefugnissen des Präsidenten, der den CHP-Bürgermeistern nach Belieben ihre Projekte zerschießt, ist die strukturelle Zerrissenheit entscheidend. Die CHP ist halbwegs sozialdemokratisch, aber auch nationalistisch orientiert. Die HDP als möglicher Koalitionspartner ist wahlentscheidend, aber prokurdisch und damit ein rotes Tuch für jeden türkischen Nationalisten. Und die zwei kleinen neugegründeten Parteien werden von Ex-AKP-Größen geführt - was zeigt, wo trotz aller Gegnerschaft zu Erdoğan ihre Anschlussfähigkeit liegen könnte. Der Präsident weiß, wie schwierig es für seine Gegner ist, trotz dieser Widersprüche Bündnisse zu schmieden. Er wird alle Möglichkeiten nutzen.

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Quelle:
SZ vom 19.06.2020
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