Süddeutsche Zeitung

Türkei:Diesmal trifft es das Herz der Türkei

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Von Mike Szymanski, Istanbul

Jetzt also Istanbul. Das Herz der Türkei. Dort, wo das Land am europäischsten ist. Sultanahmet heißt das Touristenviertel. Es liegt mittendrin, die Reisenden stehen dort Schlange, ziehen sich die Schuhe aus, Frauen legen die Kopftücher übers Haar, bevor sie die Istanbuler Hauptmoschee besuchen. Gleich gegenüber: die weltberühmte Hagia Sophia. Erst war sie eine der wichtigsten Kirchen des Christentums, dann Moschee - heute ein großes Museum der Religionen. Es ist ein berührender Ort, ein friedvoller Ort. Doch das ändert sich an diesem Dienstag.

Im Park zwischen Hagia Sophia und Blauer Moschee sitzen die Menschen an Tagen wie diesen in der Sonne - umgeben von so viel Geschichte, Gefühl und Glauben. Wer nicht genug bekommen kann, der steckt die Nase ausführlich in den Reiseführer, knabbert Sesamkringel und trinkt Tee. So wollen die Gäste die Türkei erleben. Und so zeigt sich die Türkei, wenn man an Bord der Turkish Airline-Maschinen Istanbul ansteuert und im Flugzeug den Werbefilm sieht. Eine ganz große Wohlfühlzone ist dieses Land dann, in dem der Kaffee über Kohle zubereitet wird und sich in den Schaufenster der Süßigkeitengeschäfte die Honig- und Pistazien-Köstlichkeiten türmen.

Um 10.17 Uhr knallt es, wie ein Donnerschlag in einer Unwetternacht, ohrenbetäubend laut. Bis hoch zum Taksim-Platz spürt man die Explosion. Alle schauen auf, alle schauen sich um. Es dauert nicht lange, bis das unheilvolle Konzert der Katastrophe einsetzt: Erst das entsetzliche Geschrei, dann die Sirenen. Krankenwagen jagen durch die Straßen, zum Glück ist der größte Andrang des Berufsverkehrs abgeebbt. Sonst kommt hier niemand schnell durch. Bald berichtet das türkische Fernsehen live vom Ort der Explosion. Touristen erzählen atemlos, dass sie nur noch fort wollten, weil sie Körperteile haben fliegen sehen. Bloß weg hier.

Der Schrecken bekommt große, grausame Umrisse

Bis zum Nachmittag nimmt der Schrecken langsam seine großen, grausamen Umrisse an. In ersten Eilmeldungen der Nachrichtenagenturen und Zeitungsseiten ist nur von "Verletzten" die Rede, bald aber heißt es: Zehn Tote, etliche Verletzte. Die türkische Regierung verhängt eine Nachrichtensperre, wie üblich bei solchen Anschlägen. Doch wenig später geht die Regierung selbst an die Öffentlichkeit, Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu informiert Kanzlerin Angela Merkel, dass die meisten Getöteten Deutsche seien, acht der zehn ermordeten Urlauber. Hinzu kommen 15 Verletzte.

Der Täter hat seine Bombe nahe einer deutschen Reisegruppe gezündet. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan liefert schon am Mittag eine Erklärung, wer die Tat begangen habe, eine bemerkenswert schnelle Erklärung: "Ein Selbstmordattentäter syrischer Herkunft hat diesen Terrorakt verübt", sagt er. Es handelt sich laut türkischer Regierung um einen 28-jährigen Syrer. Er habe der Terrormiliz IS angehört, sagt Ministerpräsident Davutoğlu später. Offen bezichtigt sich zunächst niemand des Angriffs.

Die Angst vor dem Terror. In Istanbul ist sie ein stiller wie ständiger Begleiter. Den prächtigen Dolmabahçe-Palast bestaunt man in Gesellschaft von Polizisten, die das Maschinengewehr im Anschlag haben. In Beşiktaş, an der Anlegestelle für die Bosporus-Schiffe, patrouilliert die Motorradstreife. Wenn man genau hinschaut, zeigt die Polizei überall Präsenz. Seit Monaten schon. In Sultanahmet bemüht sie sich, etwas weniger aufdringlich zu sein. Nun stehen dort die Männer in Kampfmontur vor rot-weißem Absperrband. Der Sicherheitsapparat hat sofort seine Muskeln angespannt.

Hat dieses Land nicht schon genug Leid gesehen? Im Oktober gingen im Zentrum Ankaras Bomben hoch. Es war ein Samstag, auch gegen 10 Uhr. Die Türkei steuerte den Neuwahlen am 1. November entgegen. Oppositionsnahe Gruppen hatte zu einem Friedensmarsch aufgerufen, weil die Türkei schon lange nichts mehr mit dem Land zu tun hat, das in den Bordfilmen ihrer Fluglinie gezeigt wird. 102 Menschen starben. Auch in diesem Fall sollen die Täter dem IS angehört haben.

Im Sommer kamen bei einem Anschlag in der südtürkischen Grenzstadt Suruç 34 Menschen um, als sich auch dort ein Terrorist in die Luft jagt. Wieder hieß es: der IS war das. Auch der Istanbuler Sultanahmet-Platz war bereits Ziel des Terrors: vor einem Jahr sprengte sich hier eine Frau in die Luft. Sie riss einen Polizisten mit in den Tod. Die Attentäterin hatte nach offiziellen Angaben ebenfalls Verbindungen zum IS.

Der sogenannte Islamische Staat ist der große skrupellose Gegner, der in der Türkei sehr viel Blut vergießt. Doch er ist nicht der einzige Gegner. Als wäre die Bedrohung durch ihn nicht schon groß genug, leistet sich das Land im Südosten auch noch einen Bürgerkrieg. Der Kurdenkonflikt ist mit einer Brutalität ins Land zurückgekehrt, die an die finsteren Neunzigerjahre erinnert. Vor Weihnachten hat die Armee begonnen, in einer Großoffensive im Südosten Stadt für Stadt gegen PKK-Kämpfern vorzugehen. Ganze Viertel werden für Wochen abgeriegelt, es gibt kein Entkommen. Danach sehen manche Straßenzüge so aus wie im kaputten Syrien. Seit dem vergangenen Sommer ist der Kurdenkonflikt wieder voll entbrannt.

Mehr als 3000 PKK-Kämpfer sollen schon gestorben sein, vermeldete Erdoğan gerade erst. Das sind für ihn Erfolgsmeldungen. Das ist sein Krieg. Der Terroranschlag von Istanbul aber trägt nicht die Handschrift der PKK, die greift in der Regel den Sicherheitsapparat an, nicht Touristen. Dies würde der kurdischen Autonomie-Bewegung zu viele Sympathien kosten. Dem IS indes geht es immer um den größtmöglichen Schaden, um das größte Entsetzen.

Die türkische Regierung hat die PKK nie geschont, den IS schon. Im Nachbarland Syrien war Ankara wenig wählerisch, wenn es darum ging, Verbündete im Kampf gegen den verhassten Gewaltherrscher Baschar al-Assad zu unterstützen - auch Islamisten. Aber der IS schont niemanden und trug den Terror über die Grenzen. Jetzt hat die türkische Regierung Mühe, ihn wieder loszuwerden. 4000 IS-Anhänger vermuten Sicherheitsbehörden in der Türkei. Wie frei sich die IS Kämpfer im Land bewegen können, zeigte die Ermordung des syrischen Journalisten und Oppositionellen Nadschi al-Dscherf im Dezember auf offener Straße in der Stadt Gaziantep. Er hatte an einem Dokumentarfilm über die Gräueltaten der Terrormiliz gearbeitet.

Der türkische Geheimdienst brüstet sich damit, wichtiger Tippgeber nach den Terroranschlägen von Paris gewesen zu sein. Auch den Deutschen wollten sie verraten haben, dass in der Silvesternacht in München ein Anschlag geplant war. Jetzt knallt es mitten in Istanbul. Und niemand war vorbereitet.

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Quelle:
SZ vom 13.01.2016
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