Süddeutsche Zeitung

Türkei:Erdoğans AKP will die Kurden als politische Kraft ausschalten

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Das Vorgehen gegen HDP-Parlamentarier in der Türkei ist verheerend. Aus der Vergangenheit haben die Parteien nichts gelernt.

Kommentar von Luisa Seeling

Die Immunität von gewählten Abgeordneten ist ein Kernelement der parlamentarischen Demokratie. Die Vertreter des Volkes sollen unabhängig arbeiten können, ohne Verfolgung fürchten zu müssen. Diese Regel steht auch in der türkischen Verfassung, und wie in anderen Ländern sollen auch dort hohe Hürden verhindern, dass daran willkürlich und hastig etwas geändert wird. Dass die konservativ-islamische Regierungspartei AKP trotzdem beharrlich daran arbeitet, die Immunität von fast 140 Abgeordneten aufzuheben, zeugt wieder einmal von ihrem problematischen Demokratieverständnis. Dass Teile der Opposition offenbar bereit sind, den drastischen Schritt mitzutragen, macht die Sache nicht besser.

Um die Aufhebung durchzubekommen, muss vorübergehend die Verfassung geändert werden. Das an sich ist schon ein fragwürdiges Manöver, von dem auch noch gar nicht klar ist, ob es Erfolg haben wird. Denn nach der ersten Abstimmung, bei der die AKP am Dienstag die erforderliche Zweidrittelmehrheit verfehlte, geht es in einigen Tagen in die zweite, entscheidende Runde. Schon jetzt hat der Vorstoß das Parlament geschwächt, und das in einer Zeit, in der das Land ohnehin in Aufruhr ist. Im Südosten tobt der Krieg zwischen Armee und der kurdischen PKK. In den großen Städten explodieren immer wieder Bomben, mal stecken kurdische Extremisten dahinter, mal die Dschihadisten des IS. Ein schlechter Moment, um das parlamentarische System weiter in die Krise zu stürzen.

Ohne Abgeordneten-Immunität funktioniert Demokratie nicht

Worum es der AKP eigentlich geht, ist dabei offenkundig: Die kurdische Partei HDP soll als politische Kraft ausgeschaltet, ihre Abgeordneten sollen aus dem Parlament gedrängt werden. Die Partei wäre von der Aufhebung der Immunität am stärksten betroffen. Die Maßnahme beträfe fast die ganze Fraktion, zudem sind die Vorwürfe sehr schwer: Unterstützung von Terrorismus. Das ist in der derzeitigen Lage eine scharfe, die schärfste Waffe.

Es stimmt ja: Nicht immer haben sich HDP-Politiker klar genug von der PKK abgegrenzt. So besuchte eine Parteivertreterin die Beerdigung des Attentäters, der im Februar in Ankara Dutzende Soldaten in den Tod riss. Politisch war das ein schwerer Fehler - der aber nicht rechtfertigt, eine ganze Parlamentsfraktion pauschal als Terrorhelfer zu denunzieren. Die HDP-Führung zumindest hat sich immer wieder von der Gewalt der PKK distanziert und zu Verhandlungen aufgerufen.

In den frühen Neunzigerjahren haben türkische Parteien schon einmal versucht, kurdische Abgeordnete aus dem Parlament zu drängen. Damals verloren diese ihre Immunität unter anderem, weil die Politikerin Leyla Zana bei ihrer Vereidigung kurdisch gesprochen hatte. Hauptvorwurf auch damals: Terrorunterstützung. Die Neunziger wurden zum blutigen Höhepunkt des Kriegs im Südosten. Viele Kurden wandten sich damals der PKK zu, auch unter dem Eindruck, dass ihre Stimmen in der türkischen Demokratie kein Gewicht haben. Es ist fatal, dass die türkischen Parteien daraus nichts gelernt haben.

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Quelle:
SZ vom 18.05.2016
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