Süddeutsche Zeitung

Türkei:Die Richter ziehen ihre Waffe

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Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilt: Selahattin Demirtaş, der Vorsitzende der pro-kurdischen Partei HDP, muss aus der Haft entlassen werden.

Von Wolfgang Janisch und Christiane Schlötzer, Karlsruhe/Istanbul

Für die türkische Präsidentschaftswahl im Sommer, bei der Selahattin Demirtaş vom Gefängnis aus kandidierte, kommt das Urteil zwar zu spät - dafür ist es umso deutlicher ausgefallen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Türkei dazu verurteilt, den Co-Vorsitzenden der prokurdischen Partei HDP aus der inzwischen mehr als zwei Jahre dauernden Untersuchungshaft zu entlassen und ihm 25 000 Euro Entschädigung und Kostenersatz zu zahlen. Vor allem aber hat das Gericht erneut zur schärfsten Waffe gegriffen, indem es die "versteckte Agenda" hinter der Festnahme ausdrücklich benennt: Mit der Fortdauer der Haft im Wahlkampf sowie während des Verfassungsreferendums 2017 habe die Türkei das Ziel verfolgt, "den Pluralismus zu ersticken und die Freiheit der politischen Debatte einzuschränken". Das rühre an den Kern der Demokratie.

Wirklich "versteckt" wirkt die Agenda der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan zwar nicht. Für den Gerichtshof, der normalerweise einzelne Rechtsverstöße beanstandet, aber kein politisches Panorama zeichnet, ist das jedoch ein ungewöhnlicher Schritt. Bei Demirtaş rügt er eine Verletzung der Freiheit der Wahl sowie einen Verfahrensverstoß. Zugleich greift er zu Artikel 18 der Menschenrechtskonvention, der es möglich macht, den Missbrauch von Strafermittlungen zu politischen Zwecken sichtbar zu machen. Ein Artikel, den die Straßburger Richter seit einem Grundsatzurteil vom November 2017 immer wieder einsetzen, wie vor wenigen Tagen im Urteil zugunsten des russischen Oppositionspolitikers Alexej Nawalny.

In Sachen Demirtaş beschreibt der Gerichtshof das angespannte politische Klima seit 2014, das laut Menschenrechtskommissar die Urteile türkischer Gerichte beeinträchtigen könne. Er zitiert Äußerungen wie die von Erdoğan im Juli 2015, wonach die HDP-Politiker "den Preis bezahlen müssen". Und er verweist auf die vielen Verhaftungen von HDP-Abgeordneten "wegen ihrer politischen Reden". Die Summe, die der Gerichtshof daraus zieht: Demirtaş ist ein Opfer politischer Verfolgung.

Für Präsident Erdoğan ist das Urteil nicht bindend. Es nimmt Bezug auf seine Drohungen

Erdoğan nannte die Entscheidung des Gerichtshofs am Dienstag "nicht bindend" für die Türkei. "Wir machen einen Gegenzug und beenden die Sache", sagte er nach Angaben der staatlichen Agentur Anadolu. Was er damit meinte, ließ Erdoğan im Unklaren. Die Türkei ist seit 1950 Mitglied des Europarats, dessen Mitglieder sich grundsätzlich an die Urteile des Gerichtshofs halten müssen. Rechtskräftig ist das Urteil aber noch nicht. Beide Seiten können innerhalb von drei Monaten die Verweisung an die Große Kammer des Gerichtshofs beantragen. Eine abweichende Meinung unter den sieben Richtern äußerte die Türkin Işıl Karakaş. Sie sah nicht hinreichend belegt, dass die Türkei mit der Inhaftierung politische Absichten verfolgte.

Die Co-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan, forderte, Demirtaș müsse "sofort freigelassen werden". Ercan Kanar, einer der Anwälte des Kurdenpolitikers, sagte der Süddeutschen Zeitung, "es ist ein erfreulicher und bindender Beschluss". Das Gericht habe die Begründung der Anwälte akzeptiert, dass Demirtaş in seiner politischen Arbeit behindert worden sei.

Rebecca Harms, Grünen-Mitglied im Europäischen Parlament, teilte mit, sie freue sich "aus tiefstem Herzen" für Demirtaş über dieses "von vielen ersehnte und lange überfällige Urteil". Die Vizepräsidentin der EU-Kommission, Federica Mogherini, und Erweiterungskommissar Johannes Hahn müssten am Donnerstag bei ihrem Besuch in Ankara die sofortige Umsetzung des Urteils einfordern, so Harms.

Demnächst dürfte eine weitere Entscheidung des Gerichtshofs anstehen, die Ankara betrifft. Dabei geht es um die mehr als einjährige Untersuchungshaft für den Kulturmäzen Osman Kavala.

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Quelle:
SZ vom 21.11.2018
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