Süddeutsche Zeitung

China:Seit dem Tiananmen-Massaker gilt Schweigegebot

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Von Lea Deuber, Peking

An dem Morgen, an dem Fang Zheng seine Beine verlor, hatte der Sportstudent sich eigentlich schon ergeben. Um sechs Uhr morgens gehörte er zu den letzten Studenten, die den Tiananmen-Platz nach Wochen des friedlichen Protestes verließen. In der Nacht auf den 4. Juni 1989 hatte die Volksbefreiungsarmee das Feuer auf die Demonstranten eröffnet. Fang und seine Mitstreiter gaben auf, als die ersten Nachrichten von Toten aus den umliegenden Straßen eintrafen. Anstatt die jungen Menschen gehen zu lassen, schickte die Regierung Panzer.

Sie rollten ihnen auf der Straße des Ewigen Friedens entgegen und feuerten Gasgranaten auf die fliehenden Menschen. Der 22-Jährige zog eine Kommilitonin in Sicherheit, geriet dadurch aber selbst in die Bahn der Panzer. Einer überrollte ihn und zerquetschte seine Beine. Elf Studenten verloren bei dem Angriff ihr Leben. Fang kam erst im Krankenhaus wieder zu sich. Beide Beine waren ihm amputiert worden. Auch 30 Jahre später wirkt Fang beim Erzählen, als würde ein Teil von ihm noch immer dort auf der Straße liegen. Verzweifelt darüber, dass die Soldaten angegriffen haben, ohne jeden Grund.

Bis heute rechtfertigt die Führung das Massaker an Unschuldigen mit dem Wirtschaftserfolg

Der 52-Jährige spricht an diesem Vormittag im Mai auf einer Taiwaner Konferenz zum 30. Jahrestag des Massakers. Im Herbst feiert die Volksrepublik ihr 70-jähriges Bestehen. Doch die Feier steht im Schatten anderer Daten. Die 60 Jahre andauernde Gewaltherrschaft in Tibet, die Unruhen in Xinjiang vor zehn Jahren und die blutige Niederschlagung der Proteste vor 30 Jahren. Unter dem Druck des sinkenden Wirtschaftswachstums, des Handelsstreits mit den USA und einer steigenden Arbeitslosigkeit fürchtet sich die Partei vor dem Moment, in dem sie ihre wichtigste Legitimation verliert: ihr Versprechen auf wachsenden Wohlstand. Auch deshalb ist Peking dieser Tage so nervös, wenn es um seine eigene Geschichte geht.

Nach der gewaltsamen Niederschlagung im Sommer 1989 war die Regierung erfolgreich darin, alle Spuren der Bewegung zu beseitigen und Demokratie als ein westliches Konzept abzutun. Bis heute verteidigt sie das Massaker mit der guten wirtschaftlichen Entwicklung, die folgte. Dabei waren die Proteste keine Aktion einer zersplitterten Gruppe rebellischer Konterrevolutionäre. Kein Aufstand, wie Peking die Demonstrationen nannte. Es war eine landesweite Bewegung von Studenten, Bürgern und Arbeitern. Selbst Parteiorganisationen schlossen sich zwischenzeitlich an, um für mehr politische Teilhabe, bessere Lebensbedingungen und die Stärkung der Menschenrechte zu kämpfen.

Mitte der 1980er-Jahre zeigte die wirtschaftliche Öffnung unter Deng Xiaoping erste Erfolge. Doch profitierte nur eine kleine Clique im Umfeld der Partei davon. Korruption grassierte, die Inflation lag zeitweise bei fast 30 Prozent. 1986 gingen die ersten Studenten auf die Straße. Als drei Jahre später der reformwillige und von der Partei geschasste Generalsekretär Hu Yaobang starb, zogen Zehntausende Studenten im April durch Peking. Während Michail Gorbatschow im Mai zum ersten Mal seit dem Bruch zwischen den Ländern die chinesische Hauptstadt besuchte, war die Zahl der Demonstranten bereits auf eine Million angestiegen. Viele Studenten traten in den Hungerstreik. Eine Schlichtung durch Generalsekretär Zhao Ziyang ("Wollt ihr mit knapp zwanzig euer Leben derart opfern?") scheiterte. Einen Tag später verhängte Premierminister Li Peng den Ausnahmezustand. Die Studenten gaben nicht nach, waren sich aber in ihren Forderungen auch nicht einig. In der Nacht zum 4. Juni rückte die Armee mit Panzern in die Innenstadt ein.

Sie wurden erschossen, sie kamen ins Gefängnis. Jugendliche von heute wissen davon nichts mehr

Der Militäreinsatz ist bis heute ein Tabu in China. Nach dem Massaker ließ die Regierung die Beteiligten gnadenlos verfolgen. Einige wurden erschossen, viele mussten für Jahre ins Gefängnis. Wer überleben wollte, musste schweigen. Dieses Gebot gilt bis heute. Die Fassade des Wohlstands aus Wolkenkratzern und Hochstraßen verdecke alle Beweise für das Verbrechen, schrieb die Aktivistengruppe "Tiananmen-Mütter" zuletzt in einem offenen Brief. Ein Großteil der jungen Leute weiß heute nichts mehr über 1989.

Veranstaltungen wie die Konferenz in Taiwan sollen das ändern. Organisiert haben das Treffen Hongkonger Menschenrechtsorganisationen. In der südchinesischen Sonderverwaltungszone selbst kann der Gipfel nicht mehr stattfinden. Das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme", das heißt ein rechtsstaatliches Hongkong mit garantierten Freiheiten, ist von China längst ausgehöhlt worden. Das weiß kaum jemand besser als Tsoi Yiu Cheong. Zwei Tage vor dem 30. Jahrestag ist der 51-Jährige für ein Gespräch in den Stadtteil Mong Kok im Zentrum Hongkongs gekommen. Dort hat die Hongkonger Allianz zur Unterstützung Patriotischer Demokratischer Bewegungen ein 4.-Juni-Museum eröffnet. Es liegt versteckt in einem unscheinbaren Bürogebäude. Ein Schild im Eingang, nicht größer als ein Schullineal, weist auf die Ausstellung im zehnten Stock.

Das Museum besteht aus nur einem durch Trennwände geteiltem Raum. Der Eintritt ist kostenlos. In einer Ecke spielt ein Video mit Augenzeugenberichten von Journalisten, die 1989 in Peking arbeiteten. Daneben hängen Spruchbänder der Demonstranten ("Das Volk unterstützt euch") sowie persönliche Gegenstände von getöteten Studenten. Darunter eine zerbrochene Brille und ein Tagebuch. In einer Vitrine liegt eine Armbanduhr. Eine Auszeichnung der Staatssicherheit für Soldaten, die den Platz geräumt hatten. Das Museum ist gut besucht. Einzelne Besucher, Pärchen und Familien drängen sich vor den Exponaten. Ein Mann ist nur für die Ausstellung aus London angereist. Er lebte 1989 während seines Studiums in England. Ihm laufen Tränen über das Gesicht. Hinter ihm steht eine Gruppe Lehrer, die eine Schulung für ihren Unterricht bekommen. "Wir versuchen, nun stärker auch die jungen Generationen zu erreichen", sagt Aktivist Tsoi.

In der Ausstellung schießen Besucher Fotos, als wäre das Museum etwas Vergängliches. Ganz falsch ist das nicht. Zwei Jahre war die Gedenkstätte geschlossen. Die alte Gebäudeverwaltung hatte die Organisation rausgeworfen. Die Besucher hätten angeblich andere Nutzer gestört, so der Vorwurf. Für Tsoi ein vorgeschobener Grund. Er vermutet, dass der Druck aus Peking zu groß wurde. Kurz vor der Eröffnung der neuen Ausstellung brachen Unbekannte ein und beschädigten die Stromleitungen. Wohl um Besucher abzuschrecken, müssen sie sich nun mit Klarnamen und Ausweisnummer im Erdgeschoss registrieren.

Aufgeben wollen Tsoi und seine Mitstreiter trotzdem nicht. Noch sei Hongkong ein Ort, an dem Menschen ihre Meinung frei äußern könnten. "Das Museum ist auch ein politisches Statement", sagt Tsoi. Hongkong ist der letzte Ort in China, an dem Erinnerungsarbeit geleistet werden kann - auch wenn die Freiheit schwinde.

Auch bei der Konferenz in Taiwan will man sich nicht von den Einschüchterungsversuchen aus Festlandchina beeinflussen lassen. Nachdem Fang Zheng gesprochen hat, übernimmt Li Xiaoming das Mikrofon. Der ehemalige Offizier gehörte zu einer der Einheiten, die am 4. Juni auf den Platz marschierten, als die Leichen bereits aus den Straßen geräumt waren. Auch wenn sich ihre Wege an jenem Morgen nicht kreuzten, sei es unbehaglich, sich 30 Jahre später zu treffen, sagt Fang. Der ehemalige Soldat Li weint, als er später beteuert, nie auf jemanden geschossen und niemanden getötet zu haben. "Es tut mir trotzdem so leid."

Für Menschen, wie den heute in USA lebende Bürgerrechtler Fang, hat sich in den vergangenen 30 Jahren nur wenig verändert. Auch wenn das Massaker im Gedächtnis des heutigen China keine Rolle mehr spielt, hat kaum jemand, der damals auf dem Platz dabei war, die Ereignisse verarbeiten können. Auch, weil viele Fragen nie beantwortet wurden. So streiten die Teilnehmer der dreitägigen Konferenz, von denen viele selbst auf dem Platz waren, über die Rolle des Militärs, die Proteste in anderen Städten, die Zahl der Toten. Warum hat ihn der Panzer überfahren, obwohl die Proteste bereits aufgelöst waren, fragt Fang. Er hofft, dass mit der Zeit mehr Menschen wie Li bereit sind über ihre Rolle 1989 zu sprechen: "Ich will die Wahrheit wissen."

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Quelle:
SZ vom 04.06.2019
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