Süddeutsche Zeitung

Komplizierte Regierungsbildung in Thüringen:Zeit für uneingeübte Modelle

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Für keine der etablierten Koalitionen reicht es in Erfurt. Deshalb muss Ministerpräsident Ramelow vielleicht eine Minderheitsregierung wagen - toleriert von CDU oder FDP. Darin kann eine Chance liegen.

Kommentar von Detlef Esslinger

Was für Menschen wirklich den Ausschlag gibt, offenbaren sie oft beiläufig. Wer das Ergebnis von Thüringen verstehen will, fand eine Erklärung in einer Wahlsendung des MDR, vor einer Woche. Es sprach ein Mann aus dem Dorf Ballstädt, der der AfD zuzuneigen schien - weil er sich sorgte, dass im Ort dereinst Zustände herrschen könnten "wie in Leipzig in der Eisenbahnstraße". Die Kriminalität dort kannte er nur vom Hörensagen, er machte "Flüchtlinge" dafür verantwortlich. Das Interessante war: Was ihn beschäftigte, waren Verbrechen, die es in seinem Dorf nicht gibt - wohingegen Kriminalität, die er dort erleben musste, ihm keine Angst bereitete. Ballstädt geriet vor fünf Jahren in die Nachrichten: weil in dem 700-Einwohner-Ort zehn Neonazis eine Kirmesgesellschaft überfielen; was selbst in Leipzig spektakulär gewesen wäre.

Es wird in Thüringen so kommen wie vermutet, eine Koalition wird nur schwer zu finden sein. Die AfD des Nazis Björn Höcke hat ihr Ergebnis von 2014 mehr als verdoppelt. Sie ist stark genug, um eingeübte Mehrheitskoalitionen - Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Rot - unmöglich zu machen. Natürlich kann man sagen: Na gut, dann ist eben jetzt die Zeit für uneingeübte Koalitionen; wird sich schon eine finden. Doch mit der Bildung einer Regierung sind die Herausforderungen ja nicht bewältigt, vor die das Wahlresultat diejenigen Parteien stellt, die die Demokratie tragen.

Profis mag es gelingen, eine Koalition zu schmieden. Das hilft aber nur zum Teil

Das Regieren im Alltag ist dabei womöglich noch das geringere Problem. Nur mal angenommen, Linke und CDU würden es nun doch miteinander versuchen wollen: Eine solche Koalition braucht an der Spitze jemanden, der (oder die) ehrlich zwischen den sie bildenden Parteien moderiert. Es braucht die Einsicht, dass es in keiner Koalition Köche und Kellner gibt, sondern dass jeder darin beides ist - denn egal, wer wie viel Prozent erzielt hat: Ohne ihn würde es zur Mehrheit nicht reichen. Zudem wäre es gut, wenn es zumindest ein Projekt gibt, das alle Partner eint. Auf jeden Fall müssen diese sich wechselseitig Raum gönnen - damit jede Partei erkennbar bleibt. Schließlich müssen die Partner in spe menschlich miteinander können. Dann ist alles Weitere hoffentlich nur noch eine Sache der Professionalität.

Das größere Problem, das sich aus einer uneingeübten Koalition ergibt, besteht in der Beziehung zwischen Gewählten und Wählern. Diejenigen Thüringer, die für die AfD, also Höcke, gestimmt haben, sind zum größten Teil sicher keine Nazis; und ganz bestimmt wollen sie nicht als trottelige, gedankenlose Wegbereiter eines neuen Nationalsozialismus gesehen werden. Höcke wird gewählt, obwohl er vielen suspekt ist; wer seinen Wählern zuhört, spürt schnell, dass ein diffuses Bauchgefühl ihre Entscheidung prägte - ein Gefühl, das zudem ein Kommunikationsproblem zwischen Wählern und etablierten Parteien offenbart.

Höcke sagt, Deutschland solle "noch eine tausendjährige Zukunft" haben

Der Mann aus Ballstädt führte auch auf Nachfragen nichts Konkretes an, doch er ist ja keineswegs der Einzige, dem sein Bauch empfahl, etablierte Parteien zu ignorieren. Bürger beklagen sich, dass die Politik nicht auf das Volk höre; den gedanklichen Schritt, dass es das Volk schon beim Streit um Kita-Gebühren oder eine Umgehungsstraße nicht gibt, machen viele AfD-Wähler nicht.

Sollte es in Erfurt nun doch, zum Beispiel, ein bislang unvorstellbares Bündnis aus CDU und Linken geben, ist eigentlich nur die Frage, was schlechter ankäme: wenn die künftigen Freunde streiten oder wenn sie nicht streiten? Den ersten Fall mögen die Leute eh nicht, und im zweiten würde die AfD ihnen erst recht einreden, zwischen all den anderen bestehe gar kein Unterschied, nicht einmal zwischen Schwarz und Dunkelrot. Wo landet Höcke dann 2024? Möglicherweise aus diesem Grund könnte eine Minderheitsregierung einen Versuch wert sein, wahrscheinlich geführt von Bodo Ramelow. Diese wäre gezwungen, sich von Vorhaben zu Vorhaben ihre Mehrheit zu suchen; im Werben und Ringen der Demokraten würde die Schmähparole der Extremisten vom "Kartell der Altparteien" täglich dementiert.

Wähler können eine Demokratie auch dann schleifen, wenn sie dies gar nicht wollen. Ein Bauchgefühl hat seinen Wert, niemand handelt unverantwortlich, wenn er sich die Lektüre von Parteiprogrammen erspart. Es wäre aber schon gut, wenn auch der gesunde Menschenverstand eingeschaltet bliebe. Höcke ist einer, der sagt, Deutschland solle "noch eine tausendjährige Zukunft" haben. Man muss sich nicht täglich mit Politik beschäftigen, um zu spüren: Um mehr Hausärzte oder Erzieherinnen in der Kita geht es so jemandem eher nicht.

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Quelle:
SZ vom 28.10.2019
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