Süddeutsche Zeitung

Justiz:Berlin will arbeitslose Straftäter milder sanktionieren

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Um zu verhindern, dass Menschen wegen nicht bezahlter Geldstrafen ins Gefängnis gehen, sollen die Tagessätze in der Hauptstadt auf ein Drittel sinken.

Von Ronen Steinke, Berlin

Neulich saß ein junger Mann wegen Schwarzfahrens vor dem Amtsgericht Berlin-Tiergarten, Kevin H., 31 Jahre alt. Dreimal hintereinander war er in der U-Bahn ohne Ticket erwischt worden, in der Linie 2, Linie 7 und Linie 1. Er wirkte zerknirscht, als er der Richterin über sein Leben erzählte. Er war arbeitslos wegen seiner Abhängigkeit von den Medikamenten Tilidin und Diazepam. "Mein Problem ist, ich bin sehr hoch verschuldet. Ich hab den Überblick verloren über meine ganzen Schulden." Die Strafe für Kevin H. lautete dann - 600 Euro Geldstrafe.

Das soll sich künftig ändern. Künftig würde er günstiger davonkommen. Die Geldstrafe würde nur noch ein Drittel so hoch ausfallen, nur noch 200 Euro, wenn die Justiz in der Hauptstadt ihren überraschenden, neuen Plan in die Tat umsetzt. Es ist ein Plan, mit dem die Berliner Justiz einem wachsenden Problem begegnen will: Menschen wie Kevin H. scheitern allzu oft daran, Geldstrafen zu bezahlen. Und weil sie wegen Suchtproblemen oft auch nicht in der Lage sind, Sozialstunden abzuleisten, landen viele im Gefängnis. Allein wegen Schwarzfahrens trifft das bundesweit 7000 Menschen pro Jahr.

450 Euro Strafe - das ist fast die komplette Grundsicherung

Der Hintergrund ist: Geldstrafen werden in Deutschland nach sogenannten Tagessätzen bemessen. Das heißt, proportional zum Einkommen. Ein Tagessatz ist das Netto-Einkommen, das ein Mensch pro Tag hat. Bei Arbeitslosen hat die Berliner Justiz bislang fast immer pauschal 15 Euro pro Tag kassiert. Das ist aber natürlich ziemlich viel, denn das sind pro Monat 450 Euro, fast die komplette Grundsicherung. Da bleibt den Delinquenten, wenn sie das bezahlen, nicht mehr viel übrig. Auch nicht für Essen.

Das ist überzogen, sagt nun die Generalstaatsanwältin von Berlin, Margarete Koppers. Unlängst hat sie dies in einem Brief an den Präsidenten des Amtsgerichts begründet, der der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Selbst wenn Arbeitslose ihre Geldstrafe in Raten abzahlen dürften, bedeute dies oft noch immer einen heftigen Einschnitt, schreibt Koppers. Zumal, wenn Arbeitslose über keinen Notgroschen verfügten. Das sei ungut. Die Wirkungen der Strafe müssten stets "auch im Verhältnis zur festgestellten Schwere der Schuld stehen". Sonst komme es zu "desozialisierenden Folgen".

Berlin möchte Haft wegen nicht bezahlter Geldstrafen verhindern

Die Generalstaatsanwältin geht deshalb einen bislang einmaligen Weg, sie hat nach Informationen der SZ am Mittwoch festgelegt, dass in der kommenden Woche eine neue Anweisung an alle Berliner Staatsanwältinnen und Staatsanwälte ergehen soll, eine sogenannte Generalienverfügung. Bei "gänzlich vermögenslosen" Arbeitslosen sollen die Ankläger demnach nur noch fünf Euro Geldstrafe pro Tag fordern. Also nur noch ein Drittel der bisherigen Summe. Inwiefern die Richterinnen und Richter den Anträgen der Staatsanwaltschaft folgen werden, entscheiden diese allerdings - wie bisher - unabhängig.

Berlin unternimmt damit einen großen Schritt, um Gefängnisaufenthalte wegen nicht bezahlter Geldstrafen zu verhindern. Damit folgt es einer Forderung, die Sozialverbände schon lange erheben. Die Caritas etwa fordert seit Jahren, dass die Geldstrafe bei mittellosen Menschen sogar nur drei Euro pro Tag betragen solle. Die Generalstaatsanwältin Margarete Koppers, die in Berlin das Amt der Polizeivizepräsidentin innehatte, bevor sie 2018 zur obersten Anklägerin ernannt wurde, bittet die Gerichte darum, bei ihrem Plan mitzugehen. So schreibt sie an den Gerichtspräsidenten: "Ich möchte auf diesem Weg bei den Richterinnen und Richtern dafür werben, sich dieser Haltung anzuschließen."

Für den bereits verurteilten Schwarzfahrer Kevin H. kommt das natürlich zu spät. Im Saal des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten, wo er unlängst nervös vor seiner Richterin saß, gab es am Ende noch einen guten Rat. "Versuchen Sie, das vielleicht irgendwie abzuarbeiten", sagte die Richterin, die ihm gerade 40 Tagessätze à 15 Euro aufgebürdet hatte, insgesamt 600 Euro Geldstrafe, "zumindest zum Teil, wenn das irgendwie geht trotz der Medikamentenabhängigkeit." Im vergangenen Jahr sind an dieser Herausforderung bundesweit etwa 50 000 Menschen gescheitert, 3000 von ihnen allein in der Hauptstadt.

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