Süddeutsche Zeitung

Sondierungsgespräche:Jamaika fehlt die europäische Vision

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Von Cerstin Gammelin, Berlin

Die in Paris und anderen europäischen Hauptstädten dringend erwartete deutsche Antwort auf die Vorschläge zur Reform Europas fällt nach Ansicht des Europa-Wissenschaftlers und Politikberaters Henrik Enderlein "enttäuschend" aus. "Deutschland duckt sich weg anstatt eine klare Antwort zu liefern", sagte der Direktor des Berliner Jacques Delors Instituts am Mittwoch der Süddeutschen Zeitung.

Die bisherigen Vereinbarungen der Sondierer für ein schwarz-gelb-grünes Regierungsbündnis enthielten nur beim EU-Haushalt so etwas wie eine Öffnungsklausel, um die Gemeinschaft weiter zu entwickeln, kritisierte Enderlein, der den französischen Präsidenten Emmanuel Macron europapolitisch berät und als dessen enger Vertrauter gilt. "Damit verweigert Jamaika sich, die ausgestreckte Hand aus Paris zu ergreifen."

Nur Wiederholungen seit Jahren bekannter Sätze

Anlass der Kritik sind die Vereinbarungen der Sondierer zur künftigen Europapolitik. In einem zweiseitigen Papier, das der SZ vorliegt, gehen die Verhandler kaum über bisherige Selbstverständlichkeiten hinaus, teilweise treten sie sogar den Rückzug ins Nationale an oder fallen hinter den Koalitionsvertrag der großen Koalition von 2013 zurück. "Wir bekennen uns zur Gestaltung eines starken und geeinten Europa", schreiben die Sondierer im ersten Satz. Ziel sei es, gemeinsame Werte und Interessen in einer globalisierten Welt "zu behaupten und zu verteidigen". Im zweiten Absatz wiederholen sie seit Jahren bekannte Sätze wie den, dass die Wirtschafts- und Währungsunion zu stärken sei, um Europa wirtschaftlich erfolgreicher zu machen und gegen Krisen zu wappnen. Die Rede ist von "angemessenen Investitionen" und der "konsequenten Anwendung" des Stabilitäts- und Wachstumspaktes.

Zu den Vorschlägen des französischen Präsidenten, die Euro-Zone als das Herz der Europäischen Union mittels besonderer neuer Kompetenzen zu stärken, findet sich kein Wort. Im Gespräch sind da etwa ein Wirtschafts- und Finanzminister für die Euro-Zone und ein spezielles Budget für gemeinsame Investitionen. Auch die Ideen von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die er in seiner Rede zur Lage der EU im September vorgetragen hatte, bleiben unerwähnt. Und selbst die von dem früheren Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) mit besonderem Eifer vorangetriebenen Bemühungen, den Euro-Rettungsfonds ESM zu einem Europäischen Währungsfonds auszubauen, der Euro-Staaten in Krisenzeiten zur Verfügung steht, bleiben unerwähnt. "Inhaltsleer mit vielen Einschränkungen" sei das Papier, fasste Enderlein zusammen.

Keine Bereitschaft, über die Zukunft Europas verhandeln zu wollen

Er findet es besonders irritierend, dass die Sondierer nicht einmal die Bereitschaft erkennen lassen, über die Zukunft Europas und der Euro-Zone verhandeln zu wollen. "Man muss die Positionen von Macron und Juncker nicht teilen, aber man muss bereit sein, darüber zu reden", sagte Enderlein. Er forderte, dazu eine Art Öffnungsklausel einzufügen, in der die möglichen Koalitionspartner erklären, dass sie sich einer Debatte über die Zukunft der Euro-Zone nicht verschließen.

Dieser Satz könnte in die finalen Verhandlungen eingefügt werden, die an diesem Donnerstag beginnen sollen. Wie die Unterhändler am Mittwoch erkennen ließen, soll dabei auch noch einmal über die Euro-Zone geredet werden. Dass es dabei substanziellen Fortschritt gibt, schließt Enderlein aber aus. Unter den in eckige Klammern strittig gestellten Passagen zur Europapolitik finde sich "keine einzige, die die Bereitschaft zu Reform Europas und zu Verhandlungen erkennen lässt".

Paris verfolgt die Sondierungen seit längerem mit großer Sorge. In der vergangenen Woche griff Macron zu einer höchst ungewöhnlichen Maßnahme. Er schickte seinen Finanzminister Bruno Le Maire nach Berlin, um mit wichtigen Sondierern zu sprechen, darunter FDP-Chef Christian Lindner, Grünen-Co-Chef Cem Özdemir und Peter Altmaier, dem amtierenden Bundesfinanzminister. Le Maire sagte später, er habe viel zugehört und gelernt, aber auch gesagt, was Paris sich erhoffe: Dass der deutsche Koalitionsvertrag Raum lasse, um nach der Regierungsbildung mit den europäischen Partnern über die Zukunft der Euro-Zone und der Gemeinschaft zu verhandeln. "Das ist für uns entscheidend." Es dürfe nicht sein, dass die europäische Zukunft in einem deutschen Koalitionsvertrag bereits festgeschrieben werde.

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Quelle:
SZ vom 16.11.2017
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