Süddeutsche Zeitung

Antiziganismus:"Wir dürfen keine Apartheid vor unserer Haustür dulden"

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Sinti und Roma gedenken ihrer Angehörigen, die während der NS-Zeit ermordet wurden - und erinnern daran, wie verbreitet Antiziganismus in Europa auch heute noch ist.

Von Robert Probst, München

Zilli Schmidts Tochter Gretel sah immer wieder die Schornsteine der Verbrennungsöfen: "Mama, da hinten werden wieder die Menschen verbrannt." Zilli widersprach ihrer Tochter: "Nein, da backen sie doch nur Brot." Am 2. August 1944 ermordete die SS Gretel, vier Jahre alt, Schmidts ganze Familie und Tausende weitere Sinti und Roma in Auschwitz. Zilli Schmidt ist heute 97 Jahre alt, es dauerte Jahrzehnte, ehe sie zum ersten Mal öffentlich über die Schrecken dieser Zeit sprechen konnte. Am Montag war sie Ehrengast beim Gedenken an die von den Nazis ermordeten Sinti und Roma Europas am Mahnmal neben dem Reichstagsgebäude.

Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, beklagte anlässlich des Gedenktags eine Diskriminierung und Unterdrückung der Angehörigen der Volksgruppen in vielen EU-Staaten. "Sinti und Roma müssten gleichberechtigt in ihren Heimatländern in Ost- und Südosteuropa leben dürfen, mit Zugang zu Arbeit und Bildung", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Wir dürfen keine Apartheid vor unserer Haustür dulden."

Am 2. August jährte sich die "Liquidation des Zigeunerfamilienlagers" in Auschwitz-Birkenau zum 77. Mal. SS-Angehörige ermordeten in der Nacht auf den 3. August 1944 die fast 4000 verbliebenen Sinti und Roma in Gaskammern - die meisten von ihnen waren als arbeitsunfähig eingestufte Frauen, Kinder und ältere Menschen. Vor sechs Jahren wurde der 2. August vom Europäischen Parlament als Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma anerkannt. Etwa 500 000 Menschen dieser Volksgruppen fielen dem Rassenwahn der Nazis zum Opfer.

Für Antiziganismus gebe es nicht das gleiche Bewusstsein wie für Antisemitismus

Zilli Schmidt, die jüngst vom Bundespräsidenten als "unerschütterliche Kämpferin gegen Hass, Ausgrenzung und Rechtsextremismus" den Verdienstorden der Bundesrepublik verliehen bekam, hat ihre Erfahrungen in dem Buch "Gott hat mit mir etwas vorgehabt. Erinnerungen einer deutschen Sinteza" (2020) erzählt. Soweit es ihr Alter und die Pandemie zulassen, tritt sie auch als Zeitzeugin auf. "Ich bin allein und habe die Zeit zum Nachdenken. Und das mache ich jetzt. Und deswegen schlafe ich manche Nächte nicht, da bin ich immer in Auschwitz."

Bereits am Freitag hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu mehr Engagement im Kampf gegen Ausgrenzung aufgerufen. "Die Erinnerung an die Verfolgungen der Roma ist eine kollektive Pflicht der Europäerinnen und Europäer. Sie macht uns immer wieder bewusst, dass wir gegen die anhaltende Diskriminierung von Roma vorgehen müssen", betonte von der Leyen gemeinsam mit weiteren Kommissionsmitgliedern. "In unserer Union haben Hass, rassistisch motivierte Gewalt und ethnisches Profiling keinen Platz", heißt es in der Erklärung weiter.

In Deutschland forderte Rose eine bewusstere Sensibilisierung der Gesellschaft. Zwar sei in den vergangenen Jahren politisch viel erreicht worden, gesellschaftlich bleibe aber noch vieles zu tun. "Der Antiziganismus ist tief in unserer Gesellschaft verwurzelt, antiziganistische Klischees werden seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben", sagt er. Außerdem gebe es in Deutschland nicht das gleiche Bewusstsein für Antiziganismus wie für Antisemitismus.

Zilli Schmidt hat es im Gespräch mit der Deutschen Welle vor einigen Monaten so ausgedrückt: Nach dem Krieg habe man nur gehört: "Die Juden sind vergast worden. Und unsere Sinti leben alle noch?" Sie macht eine Pause: "Hat keiner mehr gelebt."

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