Süddeutsche Zeitung

Früherer SPD-Chef Sigmar Gabriel:Die Rache des kleinen Mannes

Lesezeit: 3 min

Rezension von Joachim Käppner

Als in den Zwanzigerjahren Winston Churchills Buch über den Ersten Weltkrieg erschien ("The World Crisis"), spottete ein Rezensent: "Ich bin vertieft in Winstons brillante Autobiografie, die er als Geschichte des Universums verkleidet hat."

Churchill, sollte das heißen, war weniger an der Geschichte des Krieges interessiert als an seiner eigenen Rolle darin, speziell seiner Rechtfertigung für große Schlappen wie die Niederlage an den Dardanellen 1916. Ein wenig mag man daran denken bei der Lektüre von Sigmar Gabriels Buch "Mehr Mut! Aufbruch in eine bessere Zukunft".

Es ist eine mitunter geistreiche, gelegentlich leicht wohlfeile Tour durch die meisten denkbaren Probleme des Universums, wie der frühere SPD-Vorsitzende sie lösen würde, ließe man ihn denn. Manches erinnert verdächtig an seine Zeit als Merkels Außenminister 2017/18: Klimawandel, Frieden als Ziel deutscher Sicherheitspolitik, Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft bis zur "sozialdemokratischen Vision" einer "freundlichen Gesellschaft".

Das Buch liest sich immer dann spannender und lebendiger, wenn es um seine keineswegs heimliche Hauptperson selber geht, Sigmar Gabriel.

Er zeichnet seinen Weg als den eines Mannes, der es zu etwas brachte dank der sozialdemokratischen Idee des Aufstiegs für alle: "Die Arbeit am Hochofen einer Glasfabrik, am Fließband, im Labor, als Ausfahrer für Waschmaschinen und Kühlschränke bei Quelle, als Bierkutscher, als Nachtportier in einem Göttinger Hotel oder in der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung hat mir übrigens den Respekt vor körperlicher Arbeit und den Menschen beigebracht, die mit ihrer Hände Arbeit die Steuern erarbeiteten, die mir den Besuch einer Universität ermöglichten."

Gabriel macht keinen Hehl aus seiner Verachtung für Zeitgenossen auch und gerade in der Partei, die von solch erlebter Wirklichkeit gänzlich unberührt sind.

Gabriel, in dessen Amtszeit von 2009 bis 2017 die Wahlergebnisse nicht gut, aber bei Weitem nicht so deprimierend waren wie heute, gab den SPD-Vorsitz am Ende zermürbt auf. Nun revanchiert sich der Parteichef a. D., moderat im Ton, aber beinhart in der Sache: eine Fixierung auf Besserwisserei und reine Lehre treibe die SPD von ihren traditionellen Wählerschichten fort. Es ist, wenn man so will, die Rache des kleinen Mannes, mit dem Gabriel sich so gern identifiziert.

Fast vergisst man, dass er bei der Aufnahme von fast einer Million Flüchtlingen 2015 Wirtschaftsminister war, so groß ist sein Verständnis für jene, die mit der Einwanderung überfordert gewesen seien.

Die SPD habe sie als Ewiggestrige behandelt und so förmlich ins Lager der AfD getrieben: "Wenn die SPD den Kampf gegen die AfD ernst nehmen will, wie sie es immer lautstark behauptet, dann muss sie zuerst deren wachsende Wählerschaft ernst nehmen - jedenfalls dann, wenn sie vorher SPD gewählt hat."

Gabriel sieht seine Sozialdemokraten zur "Spartenpartei" verzwergen, geleitet von, er sagt das dezenter, weltfremden Gesinnungstätern. Die eigenen Fehler spricht Sigmar Gabriel wie folgt an: "Ich behaupte nicht, dass ich in dieser Zeit alles richtig gemacht habe." Immerhin.

Es folgen tatsächlich einige Sätze, die der Wohlwollende als selbstkritisch deuten darf: Ungeduldig sei er gewesen, oft zu harsch im Ton, mitverantwortlich dafür, dass die SPD nach der Wahlniederlage von 2009 "die Auseinandersetzung mit unseren Fehlentwicklungen viel zu oberflächlich" betrieben habe.

Wie ein Manager, der sagt: Ich habe vielleicht das Ausmaß der Inkompetenz meiner Mitarbeiter unterschätzt

Ansonsten klingt er wie ein Manager, der auf die Frage nach eigenen Fehlern in seiner Karriere lange nachdenkt und antwortet: Ich habe vielleicht das Ausmaß der Inkompetenz meiner Mitarbeiter unterschätzt.

Gabriel lässt durchblicken, dass die SPD schon 2015 einen Mann der Tat wie ihn nicht verdient hatte, dennoch habe er noch zwei Jahre drangehängt, voller Undank behandelt von "einer Partei, die einerseits regieren will, andererseits aber immer genau mit dieser Regierungsbeteiligung hadert".

Ein Übermaß an Bescheidenheit war nie das Problem von Sigmar Gabriel. Dennoch lässt sich manches mit Gewinn lesen: Er plädiert für Realitätssinn, Bürgernähe, Besinnung auf die Wurzeln, Stolz auf das Erreichte statt eines Dauerlamentos über Unerreichbares - all das würde die SPD weit attraktiver machen.

Deshalb verzeiht man ihm gern, dass er im Grunde "Sigmar Gabriel, wie er sich und die Welt sieht" geschrieben hat, verkleidet als Analyse des Universums.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4826519
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 02.03.2020
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.