Süddeutsche Zeitung

Wahl in Schottland:Knappe Mehrheit für die Freiheit

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Bei den Wahlen in Schottland gewinnt die Partei der Regierungschefin klar - verpasst aber die absolute Mehrheit. Was bedeutet das für die Zukunft Großbritanniens?

Von Michael Neudecker, München

Am Tag nach der Wahl machte in Schottland ein Video aus Glasgow die Runde, in dem eine Frau mit rot gefärbten Haaren die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon bedrängt. Die Frau heißt Jayda Fransen, sie ist eine ultra-rechte schottische Politikerin, die in Sachen Bedrängen schon häufiger aufgefallen ist, sie wurde mehrmals wegen Beleidigungen und Ähnlichem verurteilt. Auf dem Video ist zu sehen, wie sie Sturgeon vor einem Wahllokal im Süden von Glasgow regelrecht verfolgt, das Bild wackelt, Fransen redet auf Sturgeon ein, Worte wie "Massenimmigration" und "Marxismus" fallen, ein paar Menschen kommen hinzu, aber Sturgeon: geht gefasst ihres Weges. Zwischendurch bleibt Sturgeon stehen, um in ruhigem Tonfall zu sagen: "Sie sind eine Faschistin, Sie sind eine Rassistin, und die Menschen hier im Süden von Glasgow werden Sie ablehnen." Fransen redet noch ein wenig weiter, dann gibt sie auf.

Das Video wurde irgendwann auch von Nicola Sturgeon selbst veröffentlicht, schaut her, das war ihre Botschaft, so bin ich, eine Frau klarer Worte, und darum, wie klar ihre Worte sein können, wird es in den kommenden fünf Jahren ja vor allem gehen. Zerbricht das United Kingdom nach drei Jahrhunderten? Diese Frage war zuletzt oft gestellt worden, mit Sorge oder Hoffnung, je nach Blickwinkel. Die Regionalwahlen in Großbritannien, die am Donnerstag begannen und deren Ergebnisse bis Samstag ausgezählt wurden, sorgten deshalb für mehr Aufregung, als Regionalwahlen das sonst außerhalb der eigenen Grenzen tun.

Schottland und England sind seit 1707 vereinigt, aber Nicola Sturgeon hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie Schottland ohne England für stärker hält, schon während ihres Studiums ist die heute 50-Jährige Organisationen beigetreten, die für Schottlands Unabhängigkeit standen. Gewinnt Sturgeons Partei, die Scottish National Party (SNP), die absolute Mehrheit, wird sie ein erneutes Referendum anstreben, und angesichts der klaren Mehrheit dahinter würde man dann schon sehen, ob die Regierung in London das wirklich ablehnen könne; das war die Ausgangslage. Ganz so kam es dann nicht, und man darf davon ausgehen, dass ab jetzt darüber gestritten wird, was das nun bedeutet.

Die Juristin Sturgeon wurde erwartungsgemäß mit großem Vorsprung erneut zu Schottlands "First Minister" gewählt, nur zur absoluten Mehrheit reichte es nicht ganz. Die SNP holte 64 der 129 Sitze im Parlament - es fehlte also ein Sitz. Allerdings gewannen die Grünen acht Sitze, und die wollen ebenfalls einen Austritt Schottlands aus dem Königreich, weshalb Lorna Slater, eine der beiden Parteivorsitzenden der Grünen, am Samstagabend sagte, dies sei ein klares Votum der schottischen Bürger für die Unabhängigkeit. Und eines gegen Boris Johnson und seinen Brexit, auch wenn Lorna Slater das so nicht sagte.

Die Wahl in Schottland war eine von mehreren in den vergangenen Tagen im Vereinigten Königreich, auch in England wurden einige Lokalwahlen abgehalten. In Liverpool wurde in der Labour-Politikerin Joanne Anderson erstmals eine schwarze Frau zur Bürgermeisterin einer britischen Stadt gewählt, aber sonst: Gewann meist Boris Johnson, ohne auf dem Stimmzettel zu stehen, England ist eben nicht Schottland. Johnsons Partei, die konservativen Tories, holte auch in einer Nachwahl einen Wahlkreis namens Hartlepool, der, seit er in den Siebzigerjahren gegründet wurde, durchgehend Labour-dominiert war. Dass selbst dort nun die Konservativen gewannen, ist nicht zuletzt für Johnson die Bestätigung, dass viele Engländer es gut finden, wie er und seine Partei regieren.

Davon bestätigt sprach der auch sonst nicht unter fehlendem Selbstvertrauen leidende Johnson am Samstag mit dem Telegraph, es ging auch um Schottland, Johnson sagte, unter den gegebenen Umständen wäre "ein Referendum unverantwortlich und rücksichtslos". Nicola Sturgeon wiederum betonte zwar erst vor ein paar Tagen erneut, kein "Wildes Referendum" abzuhalten, eines ohne die obligatorische Zustimmung der Londoner Regierung also, aber am Samstagabend wies sie auch darauf hin, wie sie das Wahlergebnis interpretiert: Als Zustimmung der Bevölkerung zu ihrem Anliegen.

Sie werde also jetzt, sagte Sturgeon, "liefern". Es gehe hier um "fundamentale demokratische Prinzipien", außerdem: Ein erneutes Referendum zu blockieren hieße "den Willen der Mehrheit der schottischen Bevölkerung zu ignorieren". Einer einigermaßen knappen Mehrheit, müsste man anfügen. Wie knapp, dürfte Boris Johnson in den nächsten Tagen genau nachrechnen.

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