Süddeutsche Zeitung

Russland:Einer, der alle einigen konnte

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Fünf Jahre nach seinem Tod kämpfen Weggefährten weiter für eine Aufklärung des Mordes an Boris Nemzow. Die Opposition ist seither zersplittert.

Von Silke Bigalke, Moskau

Wladimir Kara-Mursa spricht über seinen ermordeten Freund, nimmt sich dafür Zeit nach einem langen Tag. Bei einer Kanne Tee im Café eines Moskauer Einkaufszentrums stellt Kara-Mursa die Fragen, auf die er fünf Jahre nach dem Tod von Boris Nemzow noch keine Antwort hat: nach den Hintermännern, den Auftraggebern, dem Motiv. "Die politische Verantwortung für die Ermordung gehört direkt dem Kreml und Wladimir Putin selbst." Wladimir Kara-Mursa sagt das ruhig und sachlich, auch hier in Moskau. Er ist nicht immer in Russland. Zwei Vergiftungen hat er knapp überlebt. Deswegen lebt seine Familie in Washington, zur Sicherheit.

Eine Frage an ihn: Wie erinnert er sich an Boris Nemzow? Da verliert er den Faden. "Es ist sehr schwierig für mich, über ihn zu sprechen", sagt Wladimir Kara-Mursa, "das ist zutiefst persönlich." Er kannte Nemzow mehr als 15 Jahre, hat ihn beraten, als er im Parlament saß, später in der Opposition mit ihm zusammengearbeitet. Nemzow wurde Pate seiner Tochter. Kara-Mursa spricht von einem "massiven Loch", das sich nicht schließen werde. Die Zeit heilt alle Wunden? Niemand ist unersetzlich? Beides stimmt für ihn nicht mehr. Fünf Jahre ist es her, dass Boris Nemzow erschossen wurde. Spät abends auf dem Heimweg über die Große Moskwa-Brücke trafen ihn vier Kugeln in den Rücken. Der prominente Oppositionspolitiker Russlands starb vor den Mauern des Kreml, einem der am besten überwachten Orte des Landes. Doch die Bilder der Überwachungskameras fehlten als Beweise vor Gericht.

Ein Militärgericht in Moskau sprach fünf Männer aus Tschetschenien schuldig. Einer von ihnen hatte gestanden, Nemzow erschossen zu haben, zog sein Geständnis aber später zurück. Der Schütze hatte im Bataillon "Sewer" gedient, das in Grosny stationiert ist. Die Verurteilten hatten verschiedene Verbindungen zu mehreren hochrangigen Politikern und Beamten aus Tschetschenien. Es gab Hinweise darauf, dass zumindest der damalige Vize-Kommandeur des Sewer-Bataillons geholfen hatte, die Tat zu organisieren. Der Mann wurde nicht einmal verhört.

Für die demokratische Bewegung in Russland sei der Verlust Nemzows unermesslich

Die russischen Behörden lehnten es von Anfang an ab, von einem politischen Mord zu sprechen. Staatsanwalt und Richter ignorierten Nemzows Rolle als Kremlkritiker und seine politische Karriere. In den Neunzigerjahren war er sehr jung zum Gouverneur der Region Nischni Nowgorod geworden, dann stellvertretender Ministerpräsident, bald galt er als möglicher Nachfolger für den damaligen Präsidenten Boris Jelzin. Dann kam die Rubel-Krise, Jelzins Krise, und Wladimir Putin wurde Präsident. Nemzow wurde sein stärkster Kritiker.

Für die demokratische Bewegung in Russland, sagt Wladimir Kara-Mursa, sei sein Verlust "unermesslich". Nemzow konnte Leute auf die Straße bringen, führte im Herbst 2014 eine Demonstration gegen den Krieg in der Ostukraine an. Er gewann Wahlen, trotz Anfeindungen und Repressionen, war seit 2013 Abgeordneter in der Region Jaroslawl. Vor allem aber war Nemzow gut darin, Menschen an einen Tisch zu bringen, erzählen Weggefährten. Genau das fehlt den Kremlkritikern und Oppositionellen in Russland seither.

"Wir haben es nach seinem Mord kein einziges Mal geschafft, eine breite Koalition zu bilden, die gemeinsam handeln würde", sagt der Politiker Wladimir Ryschkow über die außerparlamentarische Opposition. Ryschkow war mit Nemzow befreundet, hat mit ihm die liberale Partei Parnas gegründet. Jetzt, sagt Ryschkow, herrsche Uneinigkeit unter den Kremlkritikern. "Jene, die ihn ermordet haben, waren sich gut dessen bewusst, was sie tun", sagt er. "Sie haben der Opposition einen Moderator, Mediator, eine konsolidierende Figur entzogen, die alle einigen könnte."

Wladimir Kara-Mursa kommt gerade aus Wien. Dort hat die Parlamentarische Versammlung der OSZE einen Bericht über den Fall Boris Nemzow veröffentlicht. Er kritisiert unvollständige Ermittlungen, ein widersprüchliches Verfahren. Die russischen Behörden haben die Recherchen der schwedischen OSZE-Berichterstatterin nicht unterstützt. Das Außenministerium in Moskau verwies auf "Staatsgeheimnisse" in den Prozessakten. Kara-Mursa würde gern wissen, was das für Geheimnisse sind. Und wen oder was die russischen Behörden schützen wollen. Kara-Mursa arbeitet in der Stiftung "Offenes Russland", die vom früheren politischen Häftling Michail Chodorkowskij finanziert wird. "Wenn wir nichts tun und nur zusehen würden, was diese Leute mit unserem Land machen, wären wir mitschuldig", sagt Kara-Mursa.

Für Boris Nemzow gab es keine Schweigeminute im Parlament, keine Gedenktafel erinnert am Tatort an ihn. Stattdessen bewachen Unermüdliche Kerzen und Fotos, bringen Blumen. Wenn die Müllabfuhr und manchmal rabiate Rechte alles abräumen, stellen sie neue Blumen und Kerzen und Fotos hin. In Moskau sind seit Nemzows Tod nie mehr Menschen auf die Straße gekommen, als um seiner zu gedenken. Auch in diesem Jahr sind Gedenkmärsche geplant. Kara-Mursa sieht eine wachsende Bereitschaft zum Protest, spürt eine "sich verändernde öffentliche Stimmung". Er glaubt, dass sich all diejenigen, die Nemzow auf dem Gewissen haben, irgendwann auch in Russland verantworten müssen. Dort ist Nemzow nicht vergessen. Weltweit werden Plätze und Parks nach ihm benannt, in Washington, D. C., in Vilnius, Kiew und zuletzt in Prag, gleich vor der russischen Botschaft.

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Quelle:
SZ vom 27.02.2020
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