Süddeutsche Zeitung

Italien:Auschwitz-Überlebende Liliana Segre wird bedroht

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Von Oliver Meiler, Rom

In Mailand begegnet man in diesen regnerischen Herbsttagen einer eleganten, betagten Frau, die sich bei zwei gut gekleideten Herren mittleren Alters einhakt. In der Galleria Vittorio Emanuele II. etwa. Oder bei der Scala, dem Opernhaus, wo gerade eine Ausstellung läuft, die sie unbedingt sehen wollte. Die Szene dieser Dame mit besorgter Begleitung ist so grotesk, so traurig auch, dass Fotografen sie überall festhalten. Als Zeitdokumente. Die Männer sind Carabinieri, Bodyguards in ziviler Kleidung. Die Dame heißt Liliana Segre, sie ist 89 Jahre alt und Senatorin auf Lebenszeit.

"Knipst doch die hübschen Mädchen", rief sie den Fotografen zu und lachte. Liliana Segre ist Jüdin, sie hat Auschwitz überlebt. Seit vielen Jahren reist sie durch Italien und erzählt in Schulklassen, was passiert, wenn Hass die Herzen erdrückt.

Mit dreizehn, im Januar 1944, wurde sie deportiert, in einem Zug am Binario 21, dem dafür genutzten Gleis 21 am Mailänder Zentralbahnhof. Kurz nach Ankunft im KZ trennte man sie von ihrem Vater Alberto, sie sollte ihn nie wiedersehen. Von den 776 italienischen Kindern, die in Vernichtungslager gebracht wurden, haben nur 25 überlebt. Segre wurde zur Symbolfigur. Im vergangenen Jahr ehrte sie Staatspräsident Sergio Mattarella für ihren unermüdlichen Dienst am Erinnern mit einem permanenten Sitz im Senat. Eine höhere Auszeichnung gibt es nicht in der Republik.

Schon damals regte sich Hass im Netz, er wurde seitdem immer größer. 200 Posts am Tag zählt das "Observatorium gegen Antisemitismus" allein gegen Liliana Segre. Unsägliche Dinge stehen da. Hitler habe seinen Job nicht richtig gemacht. Oder: Segre passe gut in eine Verbrennungsanlage.

Im laufenden Jahr sind 190 antisemitische Akte registriert worden

Vor einigen Tagen hielt Liliana Segre im Senat eine Rede, in der sie für eine parlamentarische Kommission gegen Rassismus und Antisemitismus warb. Aus Verwünschungen wurden Todesdrohungen. Der Präfekt von Mailand beschloss deshalb, Segre unter Polizeischutz zu stellen. Sie hat das nicht gewollt. Sie wusste auch nichts vom Hass im Netz, ihre Kinder verschwiegen es ihr. Als sie nun davon erfuhr, sagte sie: "Die Hasser tun mir leid, sie verlieren ihre Zeit damit, einer Neunzigjährigen zu drohen."

Doch die Hasser in den sozialen Medien sind nur ein Aspekt des Phänomens, es geht tiefer. Nach Segres Rede im Senat erhob sich die gesamte linke Hälfte der Kammer, um der Zeugin des Holocaust ihre Hochachtung zu zeigen. Die rechte Seite blieb einfach sitzen, und zwar die gesamte Rechte um Matteo Salvini: Lega, Fratelli d'Italia, sogar die angeblich moderat gesinnten Mitglieder von Forza Italia. Als jetzt bekannt wurde, dass Segre beschützt wird, drängte es Salvini zu einem denkwürdigen Vergleich: "Mir droht man schließlich auch", sagte er. Gerade habe er wieder eine Kugel zugesandt bekommen, doch er beklage sich nicht. Die Botschaft lautete: Ich, der Politiker, und die Überlebende von Auschwitz - das ist dieselbe Geschichte, machen wir mal kein Drama.

In diesem Klima der ständigen Relativierung, der gezielten Ambivalenzen und offenen Flirts mit den Neofaschisten wuchert und wummert der Hass da und dort ungebremst: gegen Immigranten, gegen Fußballer mit schwarzer Hautfarbe, gegen Roma und Sinti, gegen Juden. Im laufenden Jahr sind in Italien schon 190 antisemitische Akte registriert worden, sechzig Prozent mehr als im Vorjahr, vor allem Vandalismus auf Friedhöfen und gegen Synagogen.

Der neue Bürgermeister von Pescara an der Adria, ein Politiker der Rechten, ließ nun ausrichten, er verweigere Segre die Ehrenbürgerschaft, wie das eine linke Gemeinderätin beantragt hatte. Das würde seine Stadt nur "spalten", meinte er. Wahrscheinlich wusste Liliana Segre nicht einmal, dass es diese Debatte um sie gab. Und hoffentlich erspart man ihr auch die Absage des Bürgermeisters.

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Quelle:
SZ vom 11.11.2019
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