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Prantls Blick:Wie zwei Giraffen zu Paten des Grundgesetzes wurden

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Am kommenden Samstag vor 70 Jahren begannen die Beratungen des Parlamentarischen Rats. Kein Staat der Welt ist wohl in einer so bizarren Umgebung begründet worden wie die Bundesrepublik Deutschland.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

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Als vor siebzig Jahren das Grundgesetz geschrieben wurde, schrieb Heinrich Böll an seiner Erzählung "Das Vermächtnis". Es ist eine Erzählung über den Krieg und über den Hauptmann Schnecker, der an der Ostfront, kurz vor einem Angriff der Russen, den Oberleutnant Schelling ermordet hatte. Für das Verbrechen gibt es nur noch zwei Zeugen: den Mörder selbst und den Obergefreiten Wenk. Beide sitzen, es ist drei Jahre nach Kriegsende, in einem Kölner Café. Das ist der Rahmen der Erzählung. Wenk schreibt an den jüngeren Bruder des Ermordeten einen langen Brief, in dem er von der Mordtat und von ihrer Vorgeschichte berichtet. Der Mörder, im zivilen Leben wieder prächtig angekommen, hat soeben sein Jurastudium abgeschlossen und feiert im Café seine Promotion zum Dr. jur.

Das Prinzip Globke

Bölls Erzählung zeigt, wie aus dem Hauptmann Schnecker, einem feigen Widerling in der Normandie und an der Ostfront, ein erfolgreicher Assessor auf den Pfaden des bevorstehenden Wirtschaftswunders wird. Dieser Hauptmann Schnecker ist eine der vielen Figuren Bölls mit abwaschbarem Gewissen, er ist einer von denen, die politisch immer richtig liegen. Er ist einer von denen, die das Prinzip Globke veranschaulichen: Hans Globke, der unter Hitler die Nürnberger Rassengesetze mitverfasst und kommentiert hatte, wurde hoher Ministerialbeamter und dann Staatssekretär und Amtschef in Konrad Adenauers Kanzleramt.

Böll fand keinen Verlag

Globke war die Personifikation derer, die aus dem Nazireich und seiner Verbrechensgeschichte ausstiegen wie aus der Straßenbahn und sich sogleich ans Aufräumen und ans Geldverdienen machten.

Böll fand damals keinen Verlag für das Manuskript. Vom Krieg wollte kaum noch einer etwas wissen. Böll selbst schrieb dazu 1948: "Drei Jahre nach dem Kriege muss man sich schon wieder vor dem Publikum fürchten."

Der Auftakt, vor siebzig Jahren

In dieser Zeit also arbeiteten die vier Mütter und die 61 Väter des Grundgesetzes an dem Werk, das sie alle für ein bloßes Provisorium hielten. Am kommenden Samstag vor 70 Jahren, am 1. September 1948, begannen in Bonn die Beratungen des Parlamentarischen Rats - auf der Basis des Entwurfs zu einem Grundgesetz, das 33 Fachleute im August auf der Insel Herrenchiemsee entworfen hatten.

In zwei Briefen im Juli und im August habe ich Ihnen von diesen Beratungen auf Herrenchiemsee und von den dortigen Protagonisten berichtet. Dieser Newsletter ist nun eine Fortsetzung dieser Geschichte, die eine Heldinnen- und Heldengeschichte ist.

Das Parlament der Widerstandskämpfer

Niemals mehr gab es ein deutsches Parlament, in dem der Anteil an Widerstandskämpfern und Anti-Nazis so hoch war. Das Parlament, das sich Parlamentarischer Rat nannte, tagte von September 1948 bis Mai/Juni 1949. Die wenigsten der Parlamentarier von damals sind heute wenigstens noch ein bisschen bekannt. Zu ihnen gehört der CDU-Parlamentarier Jakob Kaiser, der sich vom 20. Juli 1944 an, dem Tag des gescheiterten Hitler-Attentats, in einem Keller in Babelsberg versteckt hatte. Nach ihm ist ein Bürogebäude des Bundestags in Berlin benannt. Dazu gehört der Sozialdemokrat Ernst Reuter, der nach Verhaftung und Konzentrationslager 1935 in die Türkei geflüchtet war. Nach ihm ist ein großer Platz in Berlin benannt. Dazu gehören Konrad Adenauer, der spätere Bundeskanzler; Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, und natürlich der Staatsrechtler Carlo Schmid, der sich ein "o" an den Vornamen gehängt hatte, um ja nicht mit dem gewissenlosen Nazi-Juristen und Antisemiten Carl Schmitt verwechselt zu werden.

Da waren auch tapfere Kommunisten wie Heinz Renner - der vergeblich forderte, die 40-Stunden-Woche im Grundgesetz zu verankern, die Gleichstellung der nichtehelichen mit den ehelichen Kindern dort vorzuschreiben und das Verbot der Prügelstrafe - und der am Schluss der Beratungen dem Grundgesetz seine Unterschrift verweigerte mit den Worten: "Ich unterschreibe nicht die Spaltung Deutschlands."

Die Gewissensqualen des Anfangs

Sollte man wirklich eine richtige Verfassung schreiben, mit allem Drum und Dran, mit Grundrechten, mit Regeln für Verwaltung und Regierung, für Gesetzgebung und Gerichte - wo Deutschland doch geteilt war? Man war bescheiden, provisorisch, hatte viel guten Willen, aber auch große Gewissensqualen. Man konnte ja nur für den Westteil des Landes wirken, nicht für den Ostteil. Man hatte Angst, mit einer Verfassung nur für die Westzonen die Teilung Deutschlands zu zementieren; man ging deshalb mit großer Vorsicht und Zurückhaltung zu Werke: Die Verfassung nannte man nicht Verfassung, sondern Grundgesetz, und man ließ, als das Werk fertig war, darüber nicht das Volk abstimmen, sondern nur die Landtage. Der deutsche Weststaat galt als Provisorium, demnach sollte auch das Grundgesetz nur ein Provisorium sein. Und so schrieb man es auch in die Präambel: Das deutsche Volk habe dem staatlichen Leben "für eine Übergangszeit eine neue Ordnung" gegeben.

Die Magnet-Theorie

Gleichwohl entwickelten die Parlamentarier bei ihren Arbeiten einen gewaltigen Ehrgeiz und Anspruch: Sie wollten im Westen Deutschlands einen so attraktiven Staat aufbauen, dass Ostdeutschland davon wie von einem Magneten angezogen würde. Der Kern des Magneten sollte das Grundgesetz sein. Der Magnetismus, es war freilich 1989/90 vor allem der Magnetismus der Ökonomie, funktionierte bekanntlich auch - die DDR trat 1990 dem Grundgesetz bei. Ein besseres Beispiel für die Kraft einer Verfassung gibt es kaum. Nur dauerte das sehr viel länger, als man sich das 1948/49 vorgestellt hatte. Es dauerte aber auch einige Zeit, bis die Grundrechte, die im Parlamentarischen Rat zu Bonn formuliert worden waren, im Westen Glanz und Ausstrahlung gewannen. Unter tatkräftiger Anleitung des Verfassungsgerichts in Karlsruhe begannen die Deutschen, erst mit steigendem Wohlstand wohlgemerkt, ein Gefühl dafür zu entwickeln, was da in den Verfassungswerkstätten geschaffen worden war.

Zwei Giraffen als Paten des Grundgesetzes

Der Auftakt zu alledem geschah also am 1. September 1948: Die feierliche Festsitzung zur Eröffnung fand statt in der Lichthalle des Naturkundemuseums Koenig zu Bonn, inmitten von ausgestopften Bären und Affen, präpariertem Getier aus aller Welt und den Gerippen von ausgestorbenen Riesenvögeln und Sauriern. Diese Eröffnungssitzung war ein Symbol für den Pragmatismus der jungen Republik: Die zwei Giraffen waren mit grünen Billardtüchern zugehängt worden, die aber für die langen Hälse nicht ausreichten. So überschauten die Giraffen den feierlichen Akt wie exotische Paten. Die Delegierten kamen sich, wie Carlo Schmid später in seinen Memoiren schrieb, "ein wenig verloren vor". Man kann sich das vorstellen. Kein Staat der Welt ist wohl in einer so bizarren Umgebung begründet worden wie die Bundesrepublik Deutschland.

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