Süddeutsche Zeitung

Pflegenotstand:Die Karwoche muss zur Care-Woche werden

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Es fehlt an Personal, an Zuwendung, an Fürsorge - höchste Zeit, dass die alten Menschen für ihre Rechte auf die Straße gehen.

Kolumne von Heribert Prantl

Die Demonstranten, die vor dreißig Jahren das Ende der Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf herbeidemonstriert haben, waren älter als heute die Schüler von "Fridays for Future". Sich die Zukunft nicht klauen zu lassen und deshalb die WAA zu verhindern - das war damals ein Projekt und ein Erfolg nicht nur von Studentinnen und Studenten aus den Universitätsstädten, sondern vor allem von kleinen Leuten aus der Oberpfalz, angeführt von ihrem Landrat; sie lehnten sich auf, als ihre Heimat zur radioaktiv strahlenden Heimat gemacht werden sollte.

Der Widerstand am Bauzaun: Das war auch ein Widerstand des Landwirts, des Bauarbeiters und der Bäckerin, das war der Widerstand des Religionslehrers und des Leiters der örtlichen AOK. Manchmal war eine alte Bauersfrau dabei, die bei der ersten Demo ihres Lebens, noch dazu einer ungenehmigten, eine große Einkaufstasche mitschleppte, in der die Sicherheitskräfte Steine fürs Werfen auf Polizisten vermuteten. Und wenn darin dann nur Brotzeiten für den Hunger der Demonstranten waren, so war das trotzdem ein Grund, die alte Frau wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt festzunehmen. Es waren wilde und aufständische Zeiten.

An diese Zeiten muss ich denken, wenn ich am Sonntag als Besucher ins Alten- und Pflegeheim gehe. Da sitzen jetzt die Leute im Alter der Widerständler von damals. Da sitzt im Aufenthaltsraum die ehemalige Ladenbesitzerin, da sitzen die Verkäuferin, der Abteilungsleiter und der Oberstudienrat von einst und warten auf einen halbwegs erträglichen Tag, darauf, dass ihnen jemand beim Essen hilft und ihnen die Windeln wechselt. Es ist eine einzige Warterei. Es fehlt hinten und vorne und überall an Personal, mindestens vierzigtausend Pflegekräfte gibt es zu wenig in Deutschland; und die, die da sind und schuften, sind hoffnungslos überlastet und unzufrieden, weil der Pflegeschlüssel den Raum für Fürsorglichkeit und Zuwendung verschließt, statt ihn zu eröffnen.

"Pflegenotstand" heißt das in der politischen Debatte. 3,4 Millionen Pflegebedürftige gibt es in Deutschland. Die Hälfte davon leidet an Demenz; 750 000 sind in stationärer Pflege, verteilt auf mehr als 10 000 Heime. Man könnte in diesem Jahr mit diesen Alten, Kranken und Dementen Jubiläum feiern: Vor 25 Jahren wurde im Bundestag die Pflegeversicherung beschlossen, als "fünfte Säule der gesetzlichen Sozialversicherung". Es ist, das kann man in den Alten- und Pflegeheimen besichtigen, eine wackelige Säule.

In manchen Heimen kann man die Defizite riechen. Die Zustände in der Pflege sind nicht so, dass man feiern möchte. Seinerzeit versprach die Gesetzesbegründung, dass niemand wegen der Kosten der Pflege zum Sozialamt gehen muss, jedenfalls dann nicht, wenn er sein Leben lang gearbeitet und eine Durchschnittsrente erworben hat. Heute freilich bezieht jeder dritte Bewohner von Pflegeheimen "ergänzende Sozialhilfe". Im Alter auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, empfinden viele Menschen als unwürdig. Es bedeutet nämlich, dass sie erst einmal blank ziehen müssen: Ersparnisse komplett aufbrauchen, Bausparvertrag für Reparaturen am Haus auflösen, Sterbeversicherung auszahlen lassen, Haus belasten. Viele der Alten haben Angst davor, dass das Sozialamt wegen der Pflegekosten auf ihre Kinder zurückgreift. Und die Angst wird größer, weil die Pflegekosten steigen und steigen.

Höhere Löhne für die Altenpflegerinnen und Pfleger, wie sie dringend notwendig sind, werden im derzeitigen System von den Pflegebedürftigen finanziert. Die Pflegeversicherung zahlt nämlich nur einen festen Sockel der Pflegekosten, einen Grundbetrag. Die Pflegebedürftigen selbst zahlen den immer höheren Rest. Die SPD will das umdrehen - so sieht es die Reform der Pflegefinanzierung vor, die der Parteivorstand am Montag beschließen wird. Es soll nicht mehr so sein wie bisher, dass der Eigenanteil, den die Pflegebedürftigen zu bezahlen haben, immer höher wird; er macht oft weit mehr als die Hälfte der gesamten Kosten für den Heimplatz aus und ist nach oben offen, also völlig unkalkulierbar. Deshalb schlägt die SPD vor, das Ganze umzudrehen: Künftig zahlen die Alten einen fixen Grund- und Sockelbetrag, und die Pflegeversicherung zahlt alles, was darüber hinausgeht.

Gesundheitsminister Jens Spahn ist dagegen; es ginge nicht, sagt er, dass das "der Finanzminister" zahlen muss. Es muss aber nicht der Finanzminister zahlen, sondern die Gemeinschaft der Steuerzahler, der die Würde der Menschen im Alter etwas wert sein sollte. Die Sorge um die Kinder und die Sorge um die Alten gehören zusammen. Dies ist die Klammer, die das Leben umspannt.

An diesem Montag beginnt die Karwoche; "Kar" kommt von Kara - Klage, Trauer, Sorge; die Christen gedenken des Todes des Stifters ihrer Religion. Das englische Wort "Care" für Fürsorge ist verwandt mit "Kar". Man sollte aus der Karwoche eine Care-Woche machen, eine, in der es zu überlegen gilt, wie Fürsorglichkeit in dieser Gesellschaft besser zu wecken und zu organisieren ist. Das ist eine gute Idee von fünf Aktivistinnen aus der Schweiz.

Zum Auftakt so einer Care-Woche stelle ich mir eine Großdemonstration der Alten vor: Ich stelle mir vor, wie sie sich vor den Altenheimen zusammenrotten, mit Rollator und Rollstuhl losfahren und dann die Autobahnauffahrten blockieren (oft sind ja große Altenheime seltsamerweise am Ortsrand gelegen): care statt car! Die Prozession der Alten wird von Pflegern und Ärztinnen begleitet, die Rollstühle werden von den Enkelinnen und Enkeln der Alten geschoben. Man sieht Plakate, auf denen steht "Hier rollt eure Zukunft heran"; "Gegen die Konzernpflege" steht auf anderen und "Mehr Zeit für Zuwendung". Der Protest richtet sich auch dagegen, dass Investoren Altenheime als lukratives Renditeobjekte aufkaufen. Man sieht Plakate, die noch mehr ambulante Pflege fordern als bisher und mehr Engagement der Kommunen, weil der Bau von Kindertagesstätten und der Bau von Altenheimen zusammengedacht gehören. Man sieht Plakate, auf denen gefordert wird, dass niemand mehr wegen der Pflegekosten sein Häuschen verkaufen muss.

Gewiss: So ein Großprotest der Alten ist unrealistisch; er ist ein Traum, den auch die meisten Widerständler von einst nur noch träumen können. Aber schön wäre er schon; wirksam wohl auch.

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Quelle:
SZ vom 13.04.2019
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