Süddeutsche Zeitung

Demonstration in Dortmund:Wut, die auch Mut macht

Lesezeit: 3 min

Vor drei Monaten töteten vier Kugeln aus einer Polizeiwaffe den 16-jährigen Mouhamed Dramé. Nun sind etwa 2000 Menschen gegen Polizeigewalt und strukturellen Rassismus auf die Straße gegangen.

Von Christian Wernicke, Dortmund

Fast drei Stunden ist Justine Seewald-Krieger nun schon unterwegs. Die blonde Frau ist meist vorneweg marschiert, hat immer wieder das rote Plakat hochgestemmt: "Justice for Sammy" steht da, und darunter ist das lächelnde Gesicht von Samuel zu sehen, ihrem toten Sohn. Seit mehr als zwei Jahren verlangt Seewald Gerechtigkeit, im August 2020 haben niederländische Polizisten ihren damals offenbar völlig verwirrten Sohn in einem Hinterhof in Amsterdam erschossen.

Jetzt, kurz vor dem Abschluss der Demonstration durch die Dortmunder Nordstadt, sehen die Augen von Seewald müde aus. Aber das täuscht: "Dass hier heute so viele Menschen mit uns auf die Straße gehen, das ist eine Bestätigung für mich", sagt sie. Sie habe Mut geschöpft, neue Kontakte geknüpft zu anderen Menschen, die sich wehren gegen Polizeigewalt und mutmaßliche Willkür von Ermittlungsbehörden. "Meine Lehre von heute ist: Wir hören nicht auf!"

Wut, Zorn, Trauer - die Stimmung ist aufgewühlt, als der Demonstrationszug am frühen Samstagnachmittag aufbricht vom Platz vorm Dortmunder Hauptbahnhof. Anlass für den Protest ist ein anderer Fall: Vor exakt 103 Tagen ist in Dortmund Mouhamed Dramé ums Leben gekommen, ein 16-jähriger Geflüchteter aus dem Senegal. Der Junge hatte in einem Innenhof in der Nordstadt verstört an einer Wand gekauert, war nicht ansprechbar, bedrohte sich selbst mit einem Messer. Dann kam die Polizei mit zwölf Beamten, scheuchte Mouhamed Dramé mit Pfefferspray auf - und nach allem, was seither durchsickerte aus den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft über jenen Spätnachmittag des 8. August 2022, fühlten sich die Beamten plötzlich bedroht, schossen mit zwei Tasern und schließlich einer Maschinenpistole. Mouhamed Dramé starb, getroffen von vier Kugeln aus einer Polizeiwaffe.

"Mouhamed hat viele Gesichter, Mouhamed hat viele Namen," dröhnt es aus dem Lautsprecherwagen. Zum Beispiel eben Sammy. Oder Amed, Dominique oder Ousman. Dutzende Demonstranten tragen kleine Plakate mit Schwarz-Weiß-Fotos von anderen Toten, die aus ihrer Sicht allesamt Opfer polizeilicher Übergriffe und Gewalt wurden. Und die treffe vor allem Schwarze und People of Colour. "Rassistisch", so ruft eine Frau ins Megafon, sei diese Polizei, die "Menschen, die nicht in ihr weißes Weltbild passen, einfach tötet."

Zwanzig, dreißig andere Teilnehmer halten nur Plakate mit dem immer gleichen Wort hoch: "Einzelfall" steht da drauf - die Vokabel behördlichen Bedauerns, das in den Ohren der Demonstanten wie Hohn klingt, wenn wieder ein Einsatz als Tragödie endete. Lena Oberbäumer trägt so ein Schild, und die Lehrerin aus Bielefeld ist felsenfest davon überzeugt, dass es strukturellen Rassismus bei der Polizei gibt: "Warum sonst werden meine Freundinnen und Bekannte ständig kontrolliert - und ich als weiße Frau nie?"

Die Dortmunder Nordwache hat bei nicht-weißen Menschen einen schlechten Ruf

Mindestens 1000 Menschen, so schätzt die Polizei, haben sich in Dortmund versammelt. Vermutlich sind es sogar mehr als 2000 Personen. Hitzig wird es, als der Protestzug in der Münsterstraße vor der Polizeiwache Nord ankommt. "Hört auf unsere Wut, das ist die Wut der Trauer," ruft William Dountio ins Mikrofon. Vor der Wache stehen 14 Polizisten in dunkelblauer Einsatzkleidung, ihre weißen Helme halten sie in der Hand. Sie blicken ungerührt ins Leere, als einige Demonstranten skandieren, die Beamten hätten "Blut, Blut, Blut" an ihren Händen. Sie blicken auch ungerührt, als Dountio hinzufügt, man hege "keine Wut des Hasses."

Die Dortmunder Nordwache steht bei vielen Menschen nicht-weißer Hautfarbe im Viertel in Verruf. Zehn- oder zwölfjährige Jungen hätten Angst vor den Polizisten, erzählt Dountio. Dountio ist Mitorganisator des Protests, der gebürtige Kameruner steht seit drei Monaten in regelmäßigem Kontakt mit der Familie von Mouhamed Dramé im Senegal. Über Whatsapp schickt er Dramés älterem Bruder Sidy live Nachrichten oder Videos von der Demo: "Die Familie ist dankbar für dieses Zeichen der Solidarität", sagt Dountio.

Vor der Nordwache ruft eine Frau im roten Mantel den Polizisten ein paar Sätze zu. Etwa, dass Schwarze und Weiße doch "dieselbe Luft atmen," oder dies: "Wir Schwarzen sind keine Tiere." Ihren Namen preisgeben möchte sie lieber nicht, und nein, "niemals!" würde sie im Falle eines Überfalls in der Nordstadt die Polizei um Hilfe rufen, erzählt die Frau und zeigt mit dem Finger auf ihren dunklen Teint: "Die denken doch sofort, ich sei die Täterin." Dann wendet sich die gebürtige Südafrikanerin ("Ich bin unter der Apartheid aufgewachsen") wieder den Polizisten zu: "Ihr müsst wissen: Wir werden bleiben in Deutschland und in Dortmund!" Denn sie habe hier ihre Liebe gefunden, schon vor zehn Jahren - einen Deutschen. Eine Polizistin lächelt ihr zu, als sie das sagt, und sie lächelt auch noch, als die Frau über die Barriere ruft: "Ihr müsst Euch ändern!"

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